Verfahren gegen Arzt Alaa M.: Aufarbeitung der Verbrechen in Syrien geht weiter

Syrien – Verbrechen gegen die Menschlichkeit – Militärkrankenhäuser

Im Juni 2020 nahm die deutsche Polizei Alaa M. fest, seitdem sitzt er in Untersuchungshaft. Der Grund: Dringender Verdacht der Mittäterschaft an Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die das syrische Regime seit 2011 begangen hat. Etwa ein Jahr darauf teilte die Bundesanwaltschaft mit, Anklage gegen M. erhoben zu haben. Der ehemalige syrische Arzt soll in Militärkrankenhäusern Menschen gefoltert, getötet und sexuell misshandelt haben.

Im Januar 2022 begann vor dem Oberlandesgericht Frankfurt der Prozess gegen Alaa M., in dem ECCHR-Partneranwalt René Bahns einen Nebenkläger vertritt. Erst eine Woche zuvor war der ehemalige syrische Offizier Anwar R. im weltweit ersten Verfahren zu Staatsfolter in Syrien zu lebenslanger Haft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden, das ECCHR unterstützte dort Folterüberlebende.

Fall

Alaa M. soll als Arzt im Militärkrankenhaus Nr. 608 in Homs sowie im berüchtigten Militärkrankenhaus Mezzeh Nr. 601 in Damaskus, in dem die sogenannten Caesar-Fotos aufgenommen wurden, und dem Gefängnis der Abteilung 261 des Militärischen Geheimdiensts in Homs an sexualisierter Gewalt, Folter und Tötung von syrischen Zivilisten*innen beteiligt gewesen sein.

Sein Fall macht deutlich: Die systematische Gewalt des syrischen Regimes gegen die Zivilbevölkerung findet nicht nur in Haftanstalten statt. Erstmals belegt wurde die Rolle der Militärkrankenhäuser im Unrechtsapparat von Syriens Präsident Baschar al-Assad durch die Caesar-Fotos: Die Bilder eines syrischen Militärfotografen, der desertierte und die Aufnahmen außer Landes brachte, zeigen tausende Leichen, oft mit offensichtlichen Spuren von Folter. Ein großer Teil der Fotos wurde nachweislich in Militärkrankenhäusern in und um Damaskus aufgenommen und spielte bereits bei der Beweisführung im sogenannten Al-Khatib-Verfahren eine wichtige Rolle.

Bedeutung könnte dem Prozess zudem für die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt zukommen. So wirft die Bundesanwaltschaft Alaa M. auch vor, die Genitalien eines Jungen und eines erwachsenen Mannes so sehr verletzt zu haben, dass dies laut Anklage einen Versuch darstellt, sie der Fortpflanzungsfähigkeit zu berauben.

Kontext

Deutschland nimmt in der Aufarbeitung der Verbrechen spätestens seit dem Al-Khatib-Verfahren vor dem Oberlandesgericht Koblenz eine wegweisende Rolle ein. Zudem erließen die deutschen Strafverfolgungsbehörden einen Haftbefehl gegen den Ex-Luftwaffengeheimdienstchef Jamil Hassan. Die Bearbeitung dieser hoch komplexen Fälle gelingt den deutschen Behörden u.a. durch sogenannte Strukturermittlungsverfahren, zu denen auch viele syrische Überlebende, Aktivist*innen, Anwält*innen und Organisationen wie das ECCHR beigetragen haben. Zudem findet in Deutschland das Weltrechtsprinzip Anwendung, nach dem schwerste Menschheitsverbrechen auch ohne direkten Bezug zu Deutschland verfolgt werden können.

Insgesamt stellte das ECCHR sieben Strafanzeigen zu den Verbrechen der Assad-Regierung bei Ermittlungsbehörden in Deutschland, Schweden, Norwegen und Österreich.

Dokumente (2)

Glossar (6)

Definition

Generalbundesanwaltschaft

Die Generalbundesanwaltschaft ist Deutschlands oberste Strafverfolgungsbehörde. Der Generalbundesanwalt (GBA) ist für schwerwiegenden Staatsschutzstrafsachen zuständig, die für die innere oder äußere Sicherheit Deutschlands besonders relevant sind.

Themen (4)

Einblick

Syrien

Von April 2020 bis Januar 2022 führte das Oberlandesgericht Koblenz den weltweit ersten Prozess wegen Staatsfolter in Syrien. Hauptangeklagter war ein ehemaliger Funktionär des Allgemeinen Geheimdienstdirektorats von Syriens Präsident Baschar al-Assad, Anwar R. Im Januar 2022 verurteilte das Gericht Anwar R. zu lebenslanger Haft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sein Mitarbeiter Eyad A. wurde bereits im Februar 2022 wegen der Beihilfe zu Folter in mindestens 30 Fällen zu einer Haftstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Seit Juni 2018 ist zudem bekannt, dass der Bundesgerichtshof in Karlsruhe einen Haftbefehl gegen Jamil Hassan, bis Juli 2019 Leiter des syrischen Luftwaffengeheimdiensts (Air Force Intelligence Service), erließ. Der Haftbefehl, der weltweit vollstreckt werden kann, und der Al-Khatib-Prozess in Koblenz sind Meilensteine im Kampf gegen die Straflosigkeit von Folter in Syrien sowie bedeutsame Schritte für alle Betroffenen von Assads Foltersystem.

Zum Koblenzer Prozess sowie zum Haftbefehl gegen Jamil Hassan trug unter anderem eine Reihe von Strafanzeigen bei, die das ECCHR gemeinsam mit mehr als 50 Syrer*innen – Folterüberlebende, Angehörige, Aktivist*innen und Anwält*innen – seit 2016 in Deutschland, Österreich, Schweden und Norwegen eingereichte.

In Syrien sind Folter, Exekution und Verschwindenlassen von Zivilist*innen ebenso üblich wie gezielte Angriffe auf zivile Einrichtungen und flächendeckende Bombardierungen von Wohngebieten. Völkermord und sexualisierte Gewalt sind nur einige der Völkerrechtsverbrechen, die alle Parteien im bewaffneten Konflikt in Syrien begangen haben und weiter begehen.

Die internationale Strafjustiz bietet derzeit kaum Möglichkeiten für die Verfolgung der Verbrechen in Syrien: Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) kann nicht tätig werden. Zum einem ist Syrien kein Vertragsstaat, zum anderen blockiert Russland eine Verweisung durch den UN-Sicherheitsrat an den IStGH. Damit bleibt nur der Weg über nationale Gerichte: In einigen Drittstaaten, wie Deutschland, ermöglicht es das Weltrechtsprinzip (oder Prinzip der Universellen Jurisdiktion), die Taten juristisch aufzuarbeiten und niedrig- wie hochrangige Täter*innen zur Verantwortung zu ziehen.

Das ECCHR arbeitet seit 2012 zu verschiedenen Verbrechen aller Konfliktparteien in Syrien. Dabei kooperiert es mit einem Netzwerk von syrischen, deutschen und internationalen Organisationen und Aktivist*innen.

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