Sehr geehrte Damen und Herren Richter des geschätzten Senats,
seit ich Syrien verlassen habe, weiß ich nicht, ob ich glücklich sein soll, weil ich überlebt habe, oder traurig über die Zehntausenden von unglücklichen Menschen, die dort noch immer verschwunden gehalten werden.
Unser Traum war ein einfacher, auch wenn die meisten deutschen Bürger nicht viel an dergleichen denken, weil es für sie eine gegebene Tatsache ist: eine Heimat zu haben, die uns schützt und unsere Menschlichkeit respektiert, und einen Staat, der alle seine Bürger gleich und nach dem Gesetz behandelt. Trotz der Einfachheit dieses Traums und seiner Selbstverständlichkeit nach den Maßstäben des 21. Jahrhunderts wussten wir, dass der Preis für diese Forderung enorm sein würde. Aber wir erwarteten nicht einmal in unseren schlimmsten Albträumen, dass das Regime bereit sein würde, in seinen Verbrechen weiter zu gehen, als es sich ein normaler Mensch vorstellen konnte.
Als der Präsident von Tunesien floh und dann der ägyptische Präsident abtrat, hatten wir die Gewissheit, dass dieser Traum nicht nur einer von Einzelpersonen oder kleinen Gruppen war, sondern einer von Millionen von Menschen in unserer Region. Wir glaubten, dass er auch in Syrien durch die Kraft des Volkes erfüllt werden könnte, obgleich wir die Geschichte des Regimes seit den 1980er Jahren kannten. Wir gingen auf die Straße und forderten die Rückgabe unseres Landes und wir hatten dabei nur unsere Stimme und unseren Willen. Der Sicherheitsapparat und das Militär reagierten mit scharfem Feuer. Zwei Kugeln flogen an mir vorbei, von denen eine fast meinen Kopf getroffen hätte. Ich hatte Glück, sonst wäre ich jetzt nicht hier, aber Hunderttausende andere hatten dieses Glück nicht.
Weil wir uns nicht von scharfen Kugeln abschrecken ließen, beschloss das Regime, uns mit gepanzerten Fahrzeugen und Panzern zu konfrontieren und Städte und Gemeinden zu umstellen und auszuhungern. Unglaubliche Videos dokumentieren die Bombardierung von Wohngebieten mit allen Arten von Waffen. Ich erinnere mich an eines dieser Videos: Der Kameramann filmte einen Panzerbeschuss auf ein Wohnviertel in Tall Kalakh. Die Soldaten schienen ihn beobachtet zu haben, die Panzerkanone richtete sich auf ihn, er stand wie angenagelt da und wusste nicht mehr, was er tun sollte. Er schrie, der Panzer würde gleich auf ihn schießen. Und genau das passierte. Der junge Mann stürzte, und nur sein Telefon überlebte, so dass wir diesen Clip ein paar Tage später sehen konnten.
Ich will nicht über alle Einzelheiten der Verbrechen berichten, die das Regime und seine Anhänger von der Bombardierung der Zivilbevölkerung bis hin zur Zerstörung ganz Syriens begangen haben. Die Staatsanwaltschaft hat mehr als einmal in einer Weise darüber gesprochen, die mich beeindruckt hat, denn es offenbarte, wie viel Details der syrischen Tragödie ihr tatsächlich bekannt sind. Bilder und Videos drücken oft mehr aus als Worte. Aber ich möchte darüber sprechen, was Bilder normalerweise nicht vermitteln, nämlich über die Erfahrung der Haft und von erzwungenem Verschwundensein.
Es ist beängstigend genug, scharfen Kugeln ausgesetzt zu sein, wenn man unbewaffnet ist. Und es ist noch beängstigender, mit allen Arten von Waffen, einschließlich Flugzeugen, bombardiert zu werden – aber nichts kann den Horror einer Verhaftung in Syrien beschreiben.
In den ersten Monaten der Revolution griff eine Truppe von Hunderten von Sicherheitskräften die Stadt Harasta an, in der ich lebte. Harasta lag in der Zuständigkeit der Al-Khatib-Abteilung. Ich besuchte das Haus meiner Familie, das 200 Meter von meiner Wohnung entfernt lag, meine Frau und meine beiden Kinder blieben zu Hause. Wir hörten ein seltsames Geräusch draußen und öffneten die Tür, um zu sehen, was los war, da schrien uns auch schon Geheimdienstleute an. Wir begriffen, dass sie das Viertel stürmten. Ich versuchte meine Frau zu kontaktieren, aber alle Leitungen in der Stadt waren tot. Ich wollte hinausgehen und nach meiner Frau und meinen Kindern sehen, aber meine Mutter hinderte mich zu Recht daran, denn wenn ich auf die Straße gegangen wäre, wäre ich vielleicht nie mehr zurückgekommen, wie viele andere, die an jenem Tag verhaftet wurden.
Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat, aber es kam mir vor wie Jahre. Ich war überwältigt von der Angst, gesucht zu sein, dass sie meine Wohnung beträten, mich nicht fänden und meiner Frau und meinem Kind etwas antäten. Oder sie kämen in das Haus meiner Eltern und nähmen mich mit, so dass ich „jenseits der Sonne“ verschwände und „selbst die blauen Fliegen nicht wissen“, wo ich wäre.
Meine Damen und Herren Richter,
ich respektiere Ihre Entscheidung, das Verbrechen des erzwungenen Verschwindenlassens in die Verbrechen, derer der Angeklagte beschuldigt wird, nicht miteinzubeziehen. Ich habe möglicherweise auch nicht die gesetzlich vorgeschriebenen Beweise, um zu begründen, dass das erzwungene Verschwindenlassen ein systematischer Prozess ist, der vom Regime verfolgt und in vollem Bewusstsein der Folgen seitens des Militärs und der Geheimdienste mit dem Ziel der Terrorisierung der syrischen Gesellschaft angewandt wird. Aber ich möchte Ihnen von diesem Verbrechen aus meiner erlebten Erfahrung erzählen, denn was wir hier vortragen, stellt auch eine historische Dokumentation im Interesse aller Syrer und aller Menschenrechtsverteidiger dar.
Wenn die Interessen eines Sicherheitsbeamten mit einem Bürger Syriens in Konflikt geraten, ist das erste, was wir von diesen Schergen hören, der folgende Satz: „Ich werde dich hinter die Sonne bringen und selbst blaue Fliegen werden nicht wissen, wo du bist“. Der Betroffene ist dann gezwungen, kleinbeizugeben, weil er genau weiß, was das bedeutet und dass die Ausführung dieser Drohung leichter ist, als einen Schluck Wasser zu trinken.
Der Zweck dieser Drohung ist es, das Gegenüber einzuschüchtern und es ist ein vom Regime und seinen Elementen oft erprobtes Rezept. In der Tat muss erzwungenes Verschwindenlassen nicht nur als Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachtet werden, sondern auch als eine Form des Terrors, weil es darauf abzielt, die Gesellschaft zu terrorisieren und sie zu zwingen, sich der Macht zu unterwerfen.
„Hinter der Sonne zu verschwinden“ bedeutet, im Dunkeln zu sein und aus dem Leben verbannt zu werden, ohne tatsächlich zu sterben. Der Mensch wird zu einer Schrödingerkatze, von der die draußen Befindlichen nicht wissen, ob sie tot oder lebendig ist. Die beiden Möglichkeiten sind sogar für den Häftling selbst und für den Gefängniswärter oder den Beamten jederzeit gegeben. Der Offizier oder der Aufseher selbst weiß nicht, ob er in der nächsten Minute jemanden töten wird; er könnte plötzlich wütend über etwas sein, was sein Sohn getan hat und deswegen einen Gefangenen töten, der sich zufällig in diesem Moment vor ihm befindet. Ja, so einfach ist es für sie! Noch schlimmer ist, dass der Häftling selbst sein Schicksal im nächsten Moment nicht kennt. Zwar kennt natürlich niemand die Zukunft, aber der Unterschied zwischen den beiden Fällen ist grundlegend: Der Häftling stirbt nicht auf natürliche Weise, sondern wird ermordet, vermutlich auf die schrecklichste Art. Der Häftling hat keine Möglichkeit, sich seinem Schicksal zu widersetzen.
„Im Dunkeln hinter der Sonne zu verschwinden“ bedeutet, das Zeitgefühl zu verlieren. Ich bitte Sie, fünf Minuten Ihrer Zeit der Vorstellung zu widmen, Sie befänden sich an einem abgeschlossenen dunklen Ort, in den niemals ein Strahl Licht fällt, an den „selbst Fliegen sich nicht verirren“ und an dem man keine Zeit kennt. Nach wenigen Tagen weiß man nicht mehr, ob es Tag oder Nacht ist, so als ob man überhaupt nicht existierte. Licht und Dunkelheit werden bedeutungslos, Sie vergessen das Aussehen von Bäumen und Laub und den Geruch von Blumen. Und was ist das Leben anderes als solche kleinen Details?
Einstein verwarf einmal alle wissenschaftlichen Beweise und sagte: „Ich möchte wissen, dass der Mond existiert, ob ich ihn sehe oder nicht!“ Er war fast besessen von der Idee. In der Haft werden wir verrückt, weil wir uns keiner Sache mehr sicher sind. Ich weinte einmal, nur weil ich einen Gebetsruf hörte, obwohl ich nicht religiös bin! Ich weinte, weil ich ein anderes Geräusch hörte als nur das der Gefängniswärter, ich weinte, weil ich mich für einen Moment daran erinnerte, dass das Leben mehr ist als diese Dunkelheit, in der ich lebte. Ich weinte in diesem Moment, obwohl ich während der damaligen täglichen Folterungen nicht geweint habe.
Wissen Sie, warum ich aus Syrien geflohen bin? Nicht aus Angst, durch eine Kugel oder unter Beschuss zu sterben, sondern aus eben der Angst, noch einmal zu verschwinden. Ja, die Geheimdienstoffiziere, von denen einer hier angeklagt ist, haben es geschafft, mich einzuschüchtern und zur Flucht zu zwingen. Erzwungenes Verschwindenlassen ist eines der wichtigsten Elemente einer systematischen Politik des Regimes, uns zum Schweigen zu bringen oder loszuwerden. Diese Methode ist allen Zuarbeitern dieses Regimes sehr wohl bekannt und wird von ihnen angewandt und der Angeklagte war ein wichtiger und ranghoher Handlanger dieses Regimes.
Ich bin geflohen, weil ich nicht wollte, dass meine Familie ein drittes Mal den Albtraum von nie endenden Fragen erlebt, die auf ihrem Leben lastet: Haben sie ihn getötet? Lebt er noch? Haben sie ihn irgendwo aufgehängt? Haben sie ihm den Rücken gebrochen? Foltern sie ihn gerade jetzt, während wir essen? Ist dies geschehen und das geschehen? Trotz der Bitterkeit des Todes eines geliebten Menschen können die Familien von Gefangenen, wenn auch schmerzhaft, zumindest mit ihrer Ungewissheit abschließen, wenn ihnen der Tod ihres Angehörigen bestätigt wird. Eine ferne und unbestimmte Hoffnung dagegen ist quälender und anstrengender.
Als ich von der Al-Khatib-Abteilung verhaftet wurde, war ich unterwegs zu einem Arbeitstermin. Nach meiner Entlassung weinte mein damals dreieinhalbjähriger Sohn jedes Mal, wenn ich aus dem Haus ging. Er meinte, wenn ich hinausginge, würde ich nicht zurückkommen. Ich habe es nie gewagt, ihm zu versprechen, am Abend wiederzukommen, weil ich dieses Versprechen vielleicht nicht halten können würde und tatsächlich geschah genau dies: Als ich einmal wieder draußen war, kam ich erst vier Jahre später zurück.
Was vielleicht mehr weh tut als das Töten und das Foltern, ist der Eifer dieser Angestellten und Offiziere dabei, uns den größten Schaden zuzufügen. Ich bin überzeugt, dass sie nicht nur Befehle ausführten, sondern sich an uns rächten, weil wir versucht hatten, ihnen die absolute Macht zu entziehen, jene Macht, die ihnen als Teil der Kontrollmaschine des Regimes gegeben wurde, eine Macht, die außerhalb jedes Gesetzes und jeder Moral steht und die sie einsetzen können, wie und wann immer sie ihnen dient.
Ich war zehn Jahre alt, als ich anfing, die Angst der Menschen vor dem syrischen Geheimdienst zu verstehen und die Warnungen zu begreifen, die ich aus meiner Umgebung erhielt, damit ich nichts sagte, was den Geheimdiensten missfallen könnte. Eltern warnten ihre Kinder, dass jedes Wort dazu führen könnte, dass die ganze Familie verschwindet.
Im Alter von zehn Jahren begann ich angewidert von allen zu sein, die in den Geheimdiensten arbeiten und von allen Mitgliedern ihrer Familien, die stolz darauf sind, in einer Machtposition zu sein, die es ihnen gestattet, die Menschen um sie herum zu terrorisieren.
Mein Onkel wurde in den 1980er Jahren verhaftet und sechs Jahre lang gefoltert, weil er der Kommunistischen Partei angehörte. Drei Mitglieder der Familie eines Freundes, sein Vater, sein Onkel und sein Bruder, verschwanden und niemand kennt seither ihr Schicksal, nur weil sie verdächtigt wurden, gegen das Regime zu sein.
Es gibt keinen Syrer, Erwachsener oder Kind, der nicht weiß, welche Verbrechen die syrischen Geheimdienste begangen haben und weiterhin begehen. Jeder, der sich freiwillig gemeldet hat, um für sie zu arbeiten, hat sich bewusst dafür entschieden, ein Werkzeug zu sein, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen. Insofern kann kein Geheimdienstmitarbeiter, unabhängig von seiner Stellung, behaupten, dass er nur Befehle befolgt hat, dass er gezwungen war oder dass seine Rolle nur marginal war. Jeder beim Geheimdienst ist ein aktiver Teil dieses Apparats und für sein Handeln verantwortlich. Es versteht sich von selbst, dass je höher seine Position ist, desto ungeheuerlicher die Verbrechen sind, für die er verantwortlich ist. Noch bedeutsamer ist, je höher seine Position, desto bewusster war er sich, als er einem der Sicherheitsdienste beitrat, dass er Verbrechen begehen würde.
Ich hätte dem Angeklagten seine gegen mich begangenen Verbrechen möglicherweise verzeihen können. Aber in seiner Aussage zu Beginn des Prozesses zeigte er keine Reue oder Verantwortungsbewusstsein für die Verbrechen, die er begangen oder zu denen er beigetragen hat, und er behauptet bis heute, dass es in der Al-Khatib-Abteilung keine systematische Folter gab. Ich hätte ihm vergeben können, weil ich nicht auf persönliche Rache aus bin, sondern nach Gerechtigkeit im weitesten Sinne, damit es in der Zukunft keinen Platz für die Täter solcher Verbrechen in Syrien oder sonstwo auf der Welt gibt.
Im Sinne eines Mindestmaßes an Gerechtigkeit fordere ich daher, dass diejenigen, die solche Verbrechen in Syrien begangen haben, zur Verantwortung gezogen werden – und der Angeklagte ist einer von ihnen. Und unabhängig davon, wie lange er eingesperrt sein wird, er wird eine Uhr bei sich haben, er wird die Sonne sehen und wissen, wann sie aufgeht und wann sie untergeht, er wird medizinisch versorgt werden, wenn es nötig ist, und er wird Besuch von Angehörigen erhalten, die wissen, wie es ihm geht, so wie er wissen wird, wie es ihnen geht.
Ich habe überlebt, aber dasselbe Glück erfuhren nicht Mustafa Karman, Ayham Ghazoul, Rania al-Abbasi, ihr Mann und ihre sechs Kinder, Nabil al-Sharbaji, Yahya al-Sharbaji, Bassel Khartabil, Islam al-Dabbas, Mohammed Arab, Ali Shihab, Ali Mustafa und zehntausende von Menschen, die es verdienen würden, dass wir sie hier einen nach dem anderen nennen und ihre Geschichten und vom Schmerz ihrer Liebsten berichten.