Syrien-Prozess in Koblenz: Verschwindenlassen muss angeklagt werden

Anwälte der Nebenklage fordern Neubewertung der Anklage

22.07.2021

Berlin/Koblenz –  Gewaltsames Verschwindenlassen von Zivilisten in Syrien muss endlich im Koblenzer Prozess zu Verbrechen des syrischen Regimes aufgearbeitet werden. Die Partneranwälte des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) im Al-Khatib-Prozess, Patrick Kroker, Sebastian Scharmer und René Bahns, haben darum heute stellvertretend für 13 Nebenklägerinnen eine Neubewertung der Anklage beim Oberlandesgericht in Koblenz beantragt. Zahlreiche Zeugen und Überlebende der Al-Khatib-Abteilung haben in ihren Aussagen bereits über die Praxis des Verschwindenlassens berichtet. Bisher sind diese Fälle jedoch nur als schwere Freiheitsberaubung angeklagt. Der Antrag fordert, das Verschwindenlassen von Zivilisten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit in die Anklage gegen Anwar R. aufzunehmen.

„Verschwindenlassen muss als Teil der juristischen Aufarbeitung der Verbrechen in Syrien thematisiert und verurteilt werden, um Überlebenden und Angehörigen vermisster Menschen Gerechtigkeit zu verschaffen", erklärt Joumana Seif, syrische Menschenrechtsverteidigerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des ECCHR. „ZwangsweisesVerschwindenlassen im al-Khatib-Prozess als Verbrechen anzuerkennen, ist ein erster Schritt auf dem Weg für eine Übergangsjustiz in Syrien.“

Obwohl das deutsche Recht das zwangsweise Verschwindenlassen nach § 7 Abs. 1 Nr. 7 im Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkennt, ordnet die aktuelle Anklage in Koblenz die vorgebrachten Fälle lediglich als schwere Freiheitsberaubung nach § 7 Abs. 1 Nr. 9 VStGB ein. Aber: Diese Einstufung wird dem Leid der Vermissten und ihrer Angehörigen nicht gerecht. Das syrische Regime nutzt die Praxis systematisch, um Demonstranten und Oppositionelle gezielt anzugreifen und die Zivilgesellschaft zu schwächen. Seit 2011 wurden in Syrien rund 150.000 Menschen verschwunden gelassen.

Andreas Schüller, Leiter des Programmbereichs Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung des ECCHR, begrüßt den heutigen Antrag: „Der Tatbestand des Verschwindenlassens wird vor Gericht oft vernachlässigt, weil andere Taten wie Mord oder Freiheitsberaubung einfacher zu beweisen sind. Zwangsweises Verschwindenlassen muss als eigenständiges Verbrechen untersucht und verfolgt werden, damit die immensen Auswirkungen dieses Verbrechens auf die verschwunden gelassenen Personen und ihre Angehörigen endlich sichtbar werden.“

Zudem hat das ECCHR in der vergangenen Woche bereits einen Alternativbericht beim UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen eingereicht. Im Juli 2020 erklärte Deutschland in seinem Staatenbericht an den UN-Ausschuss an, das Verschwindenlassen im al-Khatib-Prozess strafrechtlich zu verfolgen – bislang ist dies nicht der Fall. Das ECCHR fordert auch eine Reform des deutschen Strafrechts: Deutschland muss die Definition des Verschwindenlassens im VStGB an die UN-Konvention gegen Verschwindenlassen anpassen, um seinen internationalen Verpflichtungen gerecht zu werden.

Seit April 2020 unterstützt das ECCHR im al-Khatib-Prozess 29 Folterüberlebende, darunter 14 Nebenkläger*innen. In insgesamt sieben Strafanzeigen in Deutschland, Schweden, Norwegen und Österreich hat das ECCHR immer wieder darauf gedrängt, das Verbrechen des gewaltsamen Verschwindenlassens in Syrien aufzuklären.

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