Syrien-Prozess in Koblenz: Lebenslängliche Strafe für Anwar R. wegen Menschheitsverbrechen

13.01.2022

Das Oberlandesgericht Koblenz hat heute erstmals einen höherrangigen Mitarbeiter der Assad-Regierung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Anwar R., ehemaliger Leiter der Ermittlungsabteilung der Haftanstalt der Abteilung 251 des syrischen Allgemeinen Geheimdiensts, wurde schuldig gesprochen, als Mittäter u.a. für Folter, 27 Morde, gefährliche Körperverletzung und sexualisierter Gewalt in der sogenannten Al-Khatib-Abteilung mitverantwortlich zu sein. Das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hat gemeinsam mit drei Partneranwälten 14 Nebenkläger*innen und weitere syrische Betroffene unterstützt.

Ruham Hawash, syrische Überlebende der Al-Khatib-Abteilung und Nebenklägerin im Verfahren gegen Anwar R., sagt: „Dieser Tag, dieses Urteil ist wichtig für alle Syrer*innen, die unter den Verbrechen des Assad-Regimes gelitten haben und noch immer leiden. Es zeigt uns: Gerechtigkeit muss und darf kein Traum für uns bleiben. Dieses Urteil ist nur ein Anfang und wir haben einen langen Weg vor uns – aber für uns Betroffene sind dieses Verfahren und der Tag heute ein erster Schritt in Richtung Freiheit, Würde und Gerechtigkeit.“

„Erstmals wurde ein höherrangiger Mitarbeiter des syrischen Regimes wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt – nicht zuletzt dank der unermüdlichen Arbeit vieler Aktivist*innen und NGOs“, sagt Patrick Kroker, Vertreter der Nebenklage und ECCHR-Partneranwalt. „Das Urteil heute ist nur ein erster Schritt zur Aufarbeitung der Verbrechen in Syrien – doch dieser erste Schritt ist oft der schwierigste. Es bleibt das Ziel, hochrangige Mitarbeiter von Assad, wie den ehemaligen Luftwaffengeheimdienstchef Jamil Hassan, für ihre Verbrechen vor Gericht zu bringen.“ 2017 hatte das ECCHR Strafanzeige gegen Hassan gestellt, im Juni 2018 hatte die deutsche Justiz dann einen internationalen Haftbefehl gegen ihn erlassen.

Der Prozess gegen Anwar R. hatte am 23. April 2020 begonnen und wurde in Deutschland nach dem sogenannten Weltrechtsprinzip geführt. Es ermöglicht, schwerste Verbrechen auch in Drittstaaten gerichtlich aufzuarbeiten. Seinen Mitarbeiter Eyad A. verurteilte das Koblenzer Gericht bereits im Februar 2021 wegen der Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit in 30 Fällen und bestätigte damals erstmals gerichtlich die Menschheitsverbrechen in Syrien.

„Bei allen Defiziten der internationalen Strafjustiz zeigt die Verurteilung von Anwar R., was das Weltrechtsprinzip leisten kann – und dass solche Prozesse in Deutschland und Europa durchführbar sind“, sagt Wolfgang Kaleck, Generalsekretär des ECCHR. „Das Weltrechtsprinzip ist oft die letzte Hoffnung für Betroffene schwerster Verbrechen. Das heutige Urteil schafft in jedem Falle ein solide Basis für andere europäische Strafverfolger, weitere Verfahren zu betreiben. Die Aufarbeitung der Verbrechen in Syrien in Drittstaaten ist zwar nicht ideal – aber möglich, und eine Pflicht gegenüber den Betroffenen.“

Ein wichtiges Zeichen für viele Betroffene ist die Verurteilung Anwar R.s auch wegen sexueller Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dazu hat das ECCHR maßgeblich beigetragen. Die ECCHR-Partneranwälte René Bahns, Sebastian Scharmer und Patrick Kroker hatten bei Gericht erfolgreich beantragt, sexualisierte Gewalt nicht als Einzelfälle, sondern systematisches Verbrechen gegen die syrische Zivilbevölkerung anzuklagen.

Nicht verurteilt wurde hingegen zwangsweises Verschwindenlassen – eines der emblematischsten Verbrechen gegen die syrische Zivilbevölkerung. „Zehntausende sind in Syrien weiterhin verschwunden – auch Zeug*innen im Gericht haben immer wieder davon berichtet, wie sie selber, Familienmitglieder oder Bekannte verschwunden worden sind. In zukünftigen Verfahren muss auch das zwangsweise Verschwindenlassen juristisch aufgearbeitet werden, um Verschwundenen und ihren Angehörigen endlich Gerechtigkeit zu verschaffen“, erklärt Joumana Seif, syrische Menschenrechtsverteidigerin und Research Fellow beim ECCHR.

Das ECCHR arbeitet bereits seit 2012 zur Aufarbeitung der schweren Verbrechen in Syrien. Gemeinsam mit rund 100 Folterüberlebenden, syrischen und europäischen Partnerorganisationen hat das ECCHR eine Reihe von Strafanzeigen in Deutschland, Österreich, Schweden und Norwegen gegen hochrangige Mitarbeiter des syrischen Sicherheitsapparats eingereicht. Die Strafanzeigen in Deutschland haben maßgeblich zur Eröffnung des Prozesses gegen Anwar R. und Eyad A. in Koblenz beigetragen.

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Dem Unrecht das Recht entgegensetzen – das ist das erklärte Ziel und die tägliche Arbeit des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR).

Das ECCHR ist eine gemeinnützige und unabhängige Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Berlin. Sie wurde 2007 von Wolfgang Kaleck und weiteren internationalen Jurist*innen gegründet, um die Rechte, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie anderen Menschenrechtsdeklarationen und nationalen Verfassungen garantiert werden, mit juristischen Mitteln durchzusetzen.

Gemeinsam mit Betroffenen und Partner*innen weltweit nutzen wir juristische Mittel, damit die Verantwortlichen für Folter, Kriegsverbrechen, sexualisierte Gewalt, wirtschaftliche Ausbeutung und abgeschottete Grenzen nicht ungestraft davonkommen.

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