Der Dammbruch einer Eisenerzmine nahe der brasilianischen Kleinstadt Brumadinho im Januar 2019 tötete 272 Menschen. Der giftige Minenschlamm verseuchte große Teile des Flusses Paraopeba und damit das Trinkwasser tausender Menschen. Nur vier Monate zuvor hatte das brasilianische Tochterunternehmen des deutschen Zertifizierers TÜV SÜD den Damm für stabil erklärt – obwohl die Sicherheitsrisiken bekannt waren.
Gegen den weltweit größten Eisenerz-Exporteur und Betreiber der Mine, das brasilianische Unternehmen Vale S.A., ermittelt die Staatsanwaltschaft in Brasilien. Um zudem die Verantwortung von TÜV SÜD zu klären, reichten fünf Brasilianerinnen, die bei dem Dammbruch Familienangehörige verloren, zusammen mit dem ECCHR und MISEREOR bei der Staatsanwaltschaft München im Oktober 2019 eine Strafanzeige gegen einen TÜV-SÜD-Mitarbeiter sowie eine Ordnungswidrigkeitenanzeige gegen das Zertifizierungsunternehmen als solches ein. Unterstützt wurden sie dabei von den brasilianischen RENSER, Cáritas Brasiliera und International Articulation of People Affected by Vale. Rechtsanwalt Bernhard Docke und Prof. Dr. Carsten Mommsen unterstützen die Betroffenen in der Nebenklage.
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In ihrer Anzeige werfen die Betroffenen, das ECCHR und MISEREOR dem TÜV SÜD vor, zum Dammbruch bei Brumadinho beigetragen zu haben. Denn trotz offensichtlicher Sicherheitsrisiken verhinderte TÜV SÜD nicht, dass sein Tochterunternehmen in Brasilien dem Damm die notwendige Stabilitätserklärung ausstellte.
Tatsächlich befanden die brasilianischen Mitarbeiter*innen von TÜV SÜD bei einer Prüfung, dass der Damm nicht den notwendigen Stabilitätsfaktor erreichte – was die Ausstellung der Stabilitätserklärung eigentlich unmöglich machte. Doch die zuständigen Mitarbeiter*innen – beauftragt von Vale – suchten neue Berechnungswege, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Letztendlich bestätigte TÜV SÜD wider besseres Wissen die Stabilität des Dammes. Die Folge: Weder der Minenbetreiber noch die Behörden leiteten rechtzeitig Stabilisierungs- und Evakuierungsmaßnahmen ein.
Dass Sicherheitserklärungen in Infrastrukturprojekten trotz offensichtlicher Mängel ausgestellt werden, ist kein Einzelfall. Die brasilianische Rohstoffindustrie gilt als eine der korruptesten Branchen überhaupt. Laut der brasilianischen Staatsanwaltschaft tauschte Vale seine Zertifizierer aus, wenn die Ergebnisse der Sicherheitsprüfungen nicht im Sinne des Unternehmens waren.
Wie auch bei anderen ECCHR-Fällen wie der Zivilklage gegen den deutschen Textildiscounter KiK zielen die Anzeigen gegen TÜV SÜD nicht nur auf den individuellen Zugang zum Recht für die Betroffenen ab: Sie sollen zeigen, dass Unternehmen entlang der gesamten Produktionskette Mitverantwortung für Menschenrechtsverletzungen tragen.
Q&A: Rechtlicher Hintergrund der Anzeigen gegen TÜV SÜD und einen seiner deutschen Mitarbeiter.
Vier Monate bevor der Damm B1 bei Brumadinho brach, hatte das deutsche Zertifizierungsunternehmen TÜV SÜD (AG) mit Hauptsitz in München die Stabilität des Dammes bestätigt. TÜV SÜD hat weltweit Tochterunternehmen, dazu gehört auch die Firma Bureau de Projetos e Consultoria Ltda in Belo Horizonte (Brasilien). Die Ingenieur*innen dieses Tochterunternehmens stellten die Stabilitätserklärung für den Damm B1 aus. Zudem berichteten Zeug*innen, dass sich ein Mitarbeiter von TÜV SÜD aus München regelmäßig in Brasilien aufhielt.
Deutsche Unternehmen tragen nicht nur Verantwortung für ihre direkten Geschäftsbeziehungen, sondern auch für die Aktivitäten ihrer transnationalen Tochterunternehmen. Weil deutsche Staatsbürger*innen und eine deutsche Firma mutmaßlich für den Dammbruch in Brasilien mitverantwortlich sind, fällt der Fall in die deutsche Zuständigkeit. Darum stellten fünf Betroffene am 15. Oktober 2019 gemeinsam mit dem ECCHR und MISEREOR und unterstützt durch die brasilianischen Organisationen Associacão Jangada und International Articulation of People Affected by Vale bei der Staatsanwaltschaft in München – am Hauptsitz von TÜV SÜD – eine Straf- und eine Ordnungswidrigkeitenanzeige gegen TÜV SÜD und einen seiner Mitarbeiter.
Das Ziel der Anzeigen ist es, die strukturellen Ursachen für den Dammbruch in Deutschland und Brasilien juristisch aufzuarbeiten. Nur so kann verhindert werden, dass sich menschengemachte Katastrophen wie der Dammbruch von Brumadinho wiederholen. Die Anzeige in Deutschland gegen TÜV SÜD soll nicht den brasilianischen Minenbetreiber Vale S.A. aus der Verantwortung entlassen, sondern zu einer vollständige Aufarbeitung der verschiedenen Verantwortlichkeiten beitragen.
Der Damm B1 sollte die giftigen Schlämme, die beim Abbau von Eisenerz entstehen, zurückhalten. Der Damm wurde mit der sogenannten Upstream-Methode gebaut. Dabei bildet die oberste Schicht der Schlammrückstände im Damm das Fundament für weitere Schlamm-Aufschüttungen, ohne dass stabilisierende Materialien wie Zement genutzt werden. Upstream-Dämme sind darum kostengünstiger als andere Verfahren, jedoch in vielen Ländern verboten, weil sie als zu instabil gelten. In Brasilien sind Upstream-Dämme noch immer weit verbreitet. Auch ein Damm bei Mariana, etwa 130 Kilometer von Brumadinho entfernt, wurde nach der Upstream-Methode gebaut. Im November 2015 brach er mit verheerenden Folgen für Mensch und Umwelt.
Im Fall Brumadinho hatte das brasilianische Tochterunternehmen von TÜV SÜD schon im März 2018 Probleme mit der Entwässerung des Dammes bemängelt. Doch der Minenbetreiber Vale setzte die von den Prüfer*innen vorgebrachten Verbesserungsmaßnahmen nicht oder nur teilweise um. Darum stieg der Wasseranteil im Damm weiter an, der Druck auf die Dammwand wuchs und es kam zu einer sogenannten Bodenverflüssigung (Liquefaktion) des sonst verfestigten Schlammes – bis der der Damm im Januar 2019 schließlich brach.
Begeht ein Unternehmen oder seine Mitarbeiter*innen ein Verbrechen, müssen sie dafür haften. Darum stellten die Betroffenen mit dem ECCHR und MISEREOR Anzeige gegen TÜV SÜD.
Die Anzeige soll aber auch zeigen, dass Deutschland ein Lieferkettengesetz braucht. Zum einen könnte ein solches Gesetz eine Zivilklage der Betroffenen gegen Unternehmen wie den Zertifizierer TÜV SÜD erleichtern. Zum anderen soll ein zukünftiges Lieferkettengesetz präventiv wirken: Unternehmen wären gesetzlich verpflichtet, ihre Geschäftstätigkeiten auf mögliche Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen und Maßnahmen zu ergreifen, die Mensch und Umwelt entlang der gesamten Lieferkette – also von der Rohstoffgewinnung bis hin zur Abfallentsorgung – schützen. Das würde auch Unternehmen betreffen, die erst im zweiten oder dritten Schritt eines Produktionskreislaufs tätig werden, so wie im Fall Brumadinho den Zertifizierer TÜV SÜD.