Seit dem Beginn des bewaffneten Konflikts 2011 hat sich Libyen von einem Zielland für Migrierende und Geflüchtete aus arabischen und afrikanischen Ländern zu einem Transitland nach Europa entwickelt. Allein im Jahr 2014 meldeten Expert*innen rund 170.000 Seeankünfte aus Libyen in Italien, verglichen mit einem Jahresdurchschnitt von 19.500 Seeankünften vor dem Konflikt. Der Konflikt schuf die Voraussetzungen dafür, dass sowohl Einzelpersonen als auch bewaffnete Gruppen und Milizen mit dem Schmuggel und dem Handel von Migrant*innen und Geflüchteten nach Libyen und über das Mittelmeer nach Europa Geld verdienen konnten.
Unter Ausnutzung der vulnerablen Lage der Menschen, denen es unmöglich ist, in ihre Herkunftsländer zurückzukehren, halten diese Akteure Migrant*innen regelmäßig fest und foltern sie, um Lösegeld im Austausch für ihre Freiheit und/oder ihren Transport nach Europa zu erhalten. Die Inhaftierung erfolgt häufig durch offizielle Behörden, wie die Abteilung für die Bekämpfung der illegalen Einwanderung (DCIM), die offizielle Haftzentren betreibt – oft in Zusammenarbeit mit Milizen. Aber auch nichtstaatliche Akteure, darunter Schmuggler*innen, Menschenhändler*innen und bewaffnete Gruppen, halten die Betroffenen in Haftanstalten fest.
Dort werden sie unter unmenschlichen Bedingungen in überfüllten Räumen und mit wenig oder keinem Zugang zu Nahrung, Wasser, Tageslicht, medizinischer Versorgung oder sanitären Einrichtungen festgehalten. Darüber hinaus werden Migrierende und Geflüchtete auch körperlich ausgebeutet: Während Männer und Jungen häufig zur Zwangsarbeit, auch im Rahmen von Kriegseinsätzen, herangezogen werden, werden Frauen und Mädchen oft zur Prostitution und sexuellen Sklaverei gezwungen. Migrierende und Geflüchtete werden oft wie Sklav*innen behandelt – gekauft, verkauft, auf der Straße versteigert – und aufgrund ihres Migrant*innen- oder Geflüchtetenstatus sowie ihrer ethnischen Herkunft, ihres Geschlechts und ihrer Religion verfolgt. Wie 85 Prozent der über 3.000 von der italienischen Organisation Medici per Diritti Umani befragten Migrierenden und Geflüchteten berichteten, ist Folter in Libyen weit verbreitet.
Wenn es den Betroffenen gelingt, die libysche Küste zu erreichen, nehmen viele von ihnen – oft nach großem Leid – den äußerst riskanten und oft tödlichen Weg auf sich, das Mittelmeer nach Europa zu überqueren. Dieser Weg wird als zentrale Mittelmeerroute bezeichnet, laut Ärzte ohne Grenzen „die tödlichste Migrationsroute der Welt“. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind auf dieser Route zwischen Januar und Anfang November 2021 mindestens 489 Menschen gestorben und 736 verschwunden. Seit 2016 sind Migrierende und Geflüchtete zunehmend der Gefahr ausgesetzt, auf See von der libyschen Küstenwache (LCG), einer staatlichen Behörde mit bekannten Verbindungen zu Milizen, gewaltsam abgefangen zu werden. Daraufhin werden sie regelmäßig nach Libyen zurückgeschickt, wo sie auf unbestimmte Zeit inhaftiert werden – und geraten in einen Kreislauf der Misshandlungen.