Schwere Freiheitsberaubung im Mittelmeer und Rückführung nach Libyen: Der IStGH muss gegen EU-Akteur*innen ermitteln

Libyen – Europa – Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Schutzsuchende, die bei der Überquerung des Mittelmeeres festgehalten und unter Zwang in libysche Haftzentren zurückgebracht werden, sind dort schwersten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Trotz des Wissens um diese Verbrechen verstärkte viele EU-Akteur*innen ihre Zusammenarbeit mit Libyen. Um der Straflosigkeit ein Ende zu setzen, haben wir im November 2022 eine Strafanzeige beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gegen 24 Personen, davon 16 hochrangige Entscheidungsträger*innen von EU-Mitgliedstaaten, der EU-Kommission, der EU-Grenzschutzagentur FRONTEX, des Europäischen Auswärtigen Dienstes EESA und der EU-Militärmission EUNAVOR MED, eingereicht.

Fall

Seit 2016 verstärkte die EU den Aufbau von Kapazitäten sowie die operative Unterstützung der sogenannten libyschen Küstenwache: Bereitgestellt werden Finanzmittel, Patrouillenboote, Ausrüstung und Schulungen. Darüber hinaus sind die EU-Akteur*innen direkt an den Zwangsrückführungen nach Libyen beteiligt, u. a. durch die Bereitstellung von durch FRONTEX-Drohnen erlangte Informationen über den Standort von Booten in Seenot. Dies verdeutlicht, welche entscheidende Rolle hochrangige Entscheidungsträger*innen bei der Freiheitsberaubung von Schutzsuchenden, die  aus Libyen fliehen, spielen. 

Die Strafanzeige stützt sich auf neue Beweise, die schwere körperliche Freiheitsberaubung in mindestens zwölf Fällen belegen, die sich gegen Schutzsuchende im Mittelmeer im Zeitraum zwischen 2018 und 2021 richteten. Bereitgestellt wurden die Informationen von Sea-Watch sowie von weiteren Seenotrettungs- und zivilgesellschaftlichen Organisationen und Investigativjournalist*innen. Die dokumentierten Vorfälle ermöglichen einen detaillierten Einblick in die enge Zusammenarbeit von EU-Mitgliedsstaaten und EU-Organen und Institutionen – einschließlich FRONTEX und EUNAVOR MED – einerseits und libyschen Akteur*innen andererseits, sowohl auf politischer als auch auf operativer Ebene. Insbesondere verdeutlichen die Informationen, wie Schutzsuchende im Mittelmeer gewaltsam nach Libyen zurückgeführt werden, wo sie erneut inhaftiert und schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt werden. Die Strafanzeige benennt die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit 16 hochrangiger mutmaßlicher Täter*innen, darunter einige Minister*innen. Der IStGH muss endlich den Kreislauf der Straflosigkeit durchbrechen und Ermittlungen aufgrund schwerer Menschenrechtsverbrechen gegen Schutzsuchende einleiten, einschließlich solcher, die im Zusammenhang mit Zwangsrückführungen in libysche Haftzentren begangen werden.

Kontext

Seit 2011 untersucht der IStGH die Situation in Libyen. Doch bisher wurden keine Verfahren zu Verbrechen gegen Schutzsuchende eingeleitet, obwohl der IStGH anerkennt, dass es sich um mögliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen handelt. Bereits im November 2021 reichte das ECCHR in Zusammenarbeit mit seinen Partnern Lawyers for Justice in Libya (LFJL) und der International Federation for Human Rights (FIDH) eine Strafanzeige beim IStGH ein. Diese Strafanzeige fordert die Einleitung einer Untersuchung über die Verantwortung bewaffneter Gruppen, Milizen und staatlicher libyscher Akteur*innen, die an der Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Schutzsuchende in Libyen beteiligt sind. Seither haben sich der IStGH und einige europäische Staaten in einem gemeinsamen Ermittlungsteam zusammengeschlossen und begonnen, Haftbefehle zu erlassen und erste Verfahren zu führen.

Wir fordern die Anklagebehörde des IStGH dazu auf, die schwere Freiheitsberaubung sowie die in der Strafanzeige genannten Entscheidungsträger*innen mit in ihrer Ermittlungen der Verbrechen und Tatverdächtigen in Libyen aufzunehmen. Das System der schrecklichen Ausbeutung und des Missbrauchs von Schutzsuchenden im libyschen Kontext hält weiter an. Der IStGH muss endlich die Hauptverantwortlichen libyschen und europäischen Akteur*innen zur Rechenschaft ziehen.

Grundlagen

Q&A zum rechtlichen Hintergrund

Die 2022 vom ECCHR beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) eingereichte Strafanzeige analysiert detailliert die mutmaßlich schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Migrant*innen, Geflüchtete und Asylsuchende (im Folgenden: Schutzsuchende), die im Zentralen Mittelmeer abgefangen, zurück nach Libyen geführt und dort inhaftiert werden. Die Strafanzeige legt dar, dass es sich bei den Abfangoperationen weder um Seenotrettungsaktionen noch um lediglich den später in Libyen passierenden Straftaten vorgeschaltetes Verhalten handelt. Vielmehr stellt bereits das Abfangen auf See und die Rückführung ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form der schwerwiegenden Beraubung der körperlichen Freiheit (Art. 7 Abs. 1 lit. e Römisches Statut) dar. 

Anhand von zwölf beispielhaft genannten Vorfällen, in denen Schutzsuchende zwischen 2018 und 2021 auf See abgefangen und in libysche Haft zurückgeführt wurden, hebt diese Strafanzeige die entscheidende Rolle von Beamt*innen der EU-Agenturen und Mitgliedstaaten hervor, die durch Unterstützung und Zusammenarbeit mit libyschen Akteur*innen einen wichtigen Beitrag zu den Rückführungen leisten. Seit 2016 fördern EU-Agenturen und Mitgliedstaaten verstärkt den Aufbau von Kapazitäten sowie die operativen Tätigkeiten der sogenannten libyschen Küstenwache dadurch, dass sie zum einen Finanzmittel, Patrouillenboote, Ausrüstung und Schulungen bereitstellten und zum anderen direkt in konkreten Abfangoperationen mitwirkten, indem sie unter anderem Informationen zum Standort der sich in Seenot befindlichen Boote lieferten. Zu den in der Strafanzeige benannten Tatverdächtigen dieser schweren Verbrechen gehören hochrangige Beamt*innen der EU-Agenturen und der Mitgliedstaaten sowie hochrangige libysche Akteur*innen.

Der Analyse des ECCHR zufolge werden durch das Abfangen Schutzsuchender im Mittelmeer sowie deren Zwangsrückführung nach Libyen mit anschließender Inhaftierung Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form der schwerwiegenden Beraubung der körperlichen Freiheit (Art. 7 Abs. 1 lit. e Römisches Statut) begangen. Die Strafanzeige stellt dar, dass die schwere Freiheitsberaubung, die aufgrund der Koordination der libyschen Akteur*innen mit Beamt*innen der EU-Agenturen und der Mitgliedstaaten erfolgt, bereits dann beginnt, wenn Schutzsuchende auf See abgefangen werden. Durch den Transfer nach Libyen, wo sie systematisch in Hafteinrichtungen gesperrt werden, setzt sich die Freiheitsberaubung fort. Da diese Freiheitsberaubung grundlegende Regeln des Völkerrechts, wie etwa den non-refoulement-Grundsatz, das Recht, nicht willkürlich verhaftet zu werden, und das Recht auf ein faires Verfahren, verletzt, ist sie besonders scherwiegend. 

Damit diese mutmaßlich kriminellen Handlungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifiziert werden, müssen sie im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung geschehen. Die Strafanzeige argumentiert, dass das Abfangen und die zwangsweise Rückführung von Schutzsuchenden Teil des ausgedehnten und systematischen Angriffs gegen Schutzsuchende ist, den das ECCHR, FIDH und LFJL in einer bereits 2021 gemeinsam zum IStGH eingereichten Strafanzeige identifizierten. 

In Libyen hat sich seit 2011 ein umfassendes kriminelles System entwickelt, das darauf abzielt, Schutzsuchende unter Anwendung von Gewalt auszubeuten. Die Ausbeutung erfolgt mittels Inhaftierung, Folter, Mord, Verfolgung, sexueller Gewalt, Sklaverei und anderer unmenschlicher Handlungen. Diese Gewalttaten stellen jedoch keine singulären oder isolierten Akte dar, sondern sind in einen gut dokumentierten systematischen und ausgedehnten Gesamtangriff eingebettet. Der Angriff ist insofern systematisch, als dass er wiederholt einem klaren Muster folgt und die Verbrechen zur Verfolgung einer offenkundigen Politik begangen werden, die gleichsam von staatlichen und nichtstaatlichen libyschen Akteur*innen umgesetzt wird. Diese Politk basiert vor allem auf dem 2010 in Kraft getretenen Gesetz Nr. 19, das die Inhaftierung und Zwangsarbeit von Schutzsuchenden erlaubt. Sie wird aber auch durch andere Vereinbarungen deutlich. Ausgedehnt ist der Angriff, weil er sich gegen tausende Schutzsuchende unterschiedlicher Nationalitäten, Religionen, Geschlechter, Race, und ethnischer Zugehörigkeiten richtet. Zudem folgt die Ausgedehntheit des Angriffs aus dem geografischen Ausmaß des Angriffs: Die Taten werden im gesamten libyschen Territorium sowie in libyschen und in internationalen Gewässern, einschließlich der libyschen, maltesischen und italienischen Such- und Rettungszonen (SAR), begangen. 

Schließlich sind die einzelnen Taten des Abfangens auf See und der Rückführung nach Libyen in eine Gesamttat eingebettet. Schutzsuchende, die aus Libyen fliehen und auf See festgenommen werden, werden durch „systematische Verlegungen“ in libysche Haftanstalten verbracht und verbleiben dort auf unbestimmte Zeit. Die zwangsweise Rückführung und Freiheitsberaubung ist Teil eines umfassenderen Ausbeutungs- und Missbrauchssystems, in dem die Schutzsuchenden als wichtigste „Ware“ Völkerstraftaten ausgesetzt sind.

Im Einklang mit dem strategischen Ansatz der Chefanklage des IStGH identifiziert diese Strafanzeige eine Reihe hochrangiger Beamt*innen von EU-Agenturen und Mitgliedstaaten sowie libysche Akteur*innen, die mutmaßlich hauptverantwortlich für die genannten Verbrechen sind, und analysiert ihre völkerstrafrechtliche Verantwortlichkeit im Sinne einer Mittäter*innenschaft nach Art. 25 Abs. 3 lit. a) Römisches Statut. Nach Rechtsprechung des IStGH setzt die Mittäter*innenschaft voraus, dass die Mittäter*innen (i) einen gemeinsamen Plan haben, (ii) jede*r Mittäter*in einen wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung des Plans leistet und dass die Mittäter*innen (iii) mit Vorsatz hinsichtlich der Ergebnisse des gemeinsamen Plans sowie der gemeinsamen Kontrolle hierüber handeln. 

Die Strafanzeige wertet die verfügbaren Unterlagen aus, die auf die Existenz eines gemeinsamen Plans zwischen Beamt*innen der EU-Agenturen und Mitgliedstaaten einerseits und den libyschen Akteur*innen andererseits hindeuten, der es zum Ziel hat, aus Libyen über das Zentrale Mittelmeer fliehende Menschen abzufangen und sie in Libyen festzuhalten. Die mutmaßlichen Mittäter*innen leisten dadurch einen wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung dieses gemeinsamen Tatplans, indem sie zum einen, beispielsweise durch Absichtserklärungen, einen Rahmen für die Zusammenarbeit der EU mit international anerkannten libyschen Autoritäten geschaffen haben. Zum anderen haben Beamt*innen der EU-Agenturen und Mitgliedstaaten daran mitgewirkt, die Kapazitäten der sogenannten libyschen Küstenwache durch Zurverfügungstellung von Material aufzubauen und die Handlungen der sogenannten libyschen Küstenwache durch die Weitergabe von Informationen operational zu unterstützen. 

Die Liste der mutmaßlichen Mittäter*innen umfasst folgende Personen: 

  • Ehemalige und derzeitige maltesische Premierminister, der Leiter der Planungs- und Geheimdienstabteilung der maltesischen Streitkräfte (AFM), ein ehemaliger Sonderbeauftragter des maltesischen Premierministers, und Mitglieder des maltesischen Such- und Rettungs-Koordinationszentrums (RCC) sowie der AFM; 
  • Ehemalige und derzeitige italienische Innenminister, ein ehemaliger Stabschef des Innenministers, der Generalkommandant der italienischen Küstenwache, der Befehlshaber des Maritime Rescue Coordination Center (MRCC) Rom, und Mitglieder des italienischen MRCC; 
  • Der operationale Befehlshaber von EUNAVFOR MEDs Operation Sophia,  der Befehlshaber der Streitkräfte von EUNAVFOR MEDs Operation Sophia, und Besatzungsmitglieder von Luft- und Marineposten von EUNAVFOR MED; 
  • Eine ehemalige Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik; ein ehemaliger Stellvertretender Generalsekretär des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EEAS), ein ehemaliger Vorsitzender des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees (PSC) der EU; 
  • Ein ehemaliger Frontex Geschäftsführer, ein Frontex-Leiter des Überwachungsbereichs, ein Frontex-Leiter des Situation Center (FSC), ein Frontex-Leiter der Situational Awareness and Monitoring Division, Mitglieder der Joint Operation Themis, Mitglieder von Frontex Multipurpose Aerial Surveillance (MAS), und Mitglieder von Frontex Geschäftsführung; 
  • Der ehemalige Premierminister und der ehemalige Verteidigungsminister von Libyens Government of National Accord (GNA), der aktuelle Premierminister und der aktuelle Verteidigungsminister von Libyens Government of National Unity (GNU), ein GNA Außenminister, ein GNA Innenminister, ein GNA Stellvertretender Premierminister, ein ehemaliger GNA Verteidigungsminister, ehemalige und aktuelle Leiter der libyschen Behörde Directorate for Combating Illegal Migration (DCIM), Mitglieder von Milizen und bewaffneten Gruppen, die offiziell unter dem DCIM operieren, Mitglieder der sogenannten libyschen Küstenwache, und Besatzungsmitglieder von unter libyscher Flagge fahrenden Handelsschiffen.

Die Liste der mutmaßlichen Täter*innen und die in dieser Strafanzeige dargestellte Form der völkerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit sind nicht abschließend. Aufgrund des undurchsichtigen Charakters verschiedener EU-Agenturen, insbesondere Frontex, ist es erforderlich, dass der IStGH seine Ermittlungsmöglichkeiten nutzt, um Beweise und Informationen zu erlangen, auf die die Zivilgesellschaft oder nationale Strafverfolgungsbehörden keinen Zugriff haben. Die in dieser Strafanzeige vorgenommene rechtliche Beurteilung der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Tatverdächtigen nach Art. 25 Abs. 3 lit. a) Römisches Statut als Täter*innen  gilt unbeschadet anderer Ermittlungen hinsichtlich der Begehungsform – sei es in Täter*innenschaft oder in Teilnahme.

Die Strafanzeige analysiert die Entwicklung der Grenz- und Migrationspolitik der EU und einiger Mitgliedstaaten in Bezug auf Libyen (siehe Frage 6). Seit spätestens 2016 fokussiert sich die Kooperation zwischen EU-Agenturen und Mitgliedstaaten einerseits und international anerkannten libyschen Autoritäten andererseits darauf, die Kapazitäten libyscher Akteur*innen auszubauchen, um Schutzsuchende  verstärkt auf dem Mittelmeer abzufangen und nach Libyen zurückzuführen. Die Strafanzeige erläutert detailliert anhand von zwölf beispielhaften Abfang- und Rückführungsvorfällen zwischen 2018 und 2021, wie diese Kooperation in der Realität abläuft. Die Vorfälle wurden ausgewählt, weil sie ein besonders klares und detailliertes Bild von der Zusammenarbeit zwischen den EU-Agenturen, Mitgliedstaaten und den libyschen Akteur*innen auf politischer und operativer Ebene bei der Durchführung der Abfang-  und Rückführungsaktionen vermitteln. 

Die Vorfälle umfassen Abfangmaßnahmen, die an folgenden Daten stattfanden: 28. Februar 2018, 7. November 2018, 10. April 2019, 2. Mai 2019, 18. Oktober 2019, 12. Februar 2020, 13-14. April 2020, 14. Juli 2020, 10. Februar 2021, 28. März 2021, 21. April 2021 und 30. Juli 2021. 

Die Darstellung und Analyse dieser Vorfälle stützt sich auf die operative Dokumentation sowie die faktischen und rechtlichen Recherchen des ECCHR und verschiedener anderer Organisation, darunter SeaWatch, Initiative Watch the Med–Alarm Phone, Mediterranea, Open Arms, Border Forensics, Frag den Staat, Amnesty International, Human Rights Watch, und Lighthouse Reports. Die Strafanzeige stützt sich auch auf zusätzliche Informationen, die aus zuverlässigen öffentlichen Berichten und Open-Source-Daten gesammelt und analysiert wurden, inter alia von UN-Organisationen wie dem UN-Hochkommissar für Geflüchtete (UNHCR), der Internationalen Organisation für Migration (IOM), dem Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte (OHCHR), der Unabhängigen Untersuchungskommission für Libyen (FFM), dem UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte von Migrant*innen, der UN-Unterstützungsmission in Libyen (UNSMIL) und dem UN-Expert*innengremium für Libyen. Die vom UNHCR und der IOM gesammelten Daten bieten wichtige Einblicke in den Ablauf der „Entladung“ der abgefangenen Schutzsuchenden und ihren weiteren Transfer in libysche Haftanstalten. Die Daten indizieren, dass dies im Rahmen eines systematischen Vorgehens geschieht. 

Andere Quellen umfassen interne EU-Berichte, Dokumente oder Datensätze, die durch öffentlich zugängliche Plattformen oder sogenannte Informationsfreiheitsanfragen (FOIA) erlangt wurden. Die Ergebnisse des Berichts des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF) über Fehlverhalten von Frontex lieferten weitere hilfreiche Einsichten in die allgemeine interne Arbeitsweise von Frontex. Über Frag den Staat konnte das ECCHR Zugang zur Frontex-Datenbank Joint Operations Reporting Application (JORA) erhalten, die Ereignisse an den EU-Außengrenzen dokumentiert. Nichtsdestotrotz erschwert die undurchsichtige Arbeitsweise verschiedener europäischer Stellen, insbesondere von Frontex, zivilgesellschaftlichen Organisationen den Zugang zu Informationen durch öffentlich zugängliche Quellen oder FOIA. Daher ist es besonders wichtig, dass durch die Ermittlungsbefugnisse des IStGH vertrauliche Informationen erlangt werden können, die sonst nicht zu erlangen sind. 

Basierend auf den Analysen der untersuchten Vorfälle stellt diese Strafanzeige dar, dass das Abfangen und die zwangsweise Rückführung mit anschließender Inhaftierung von Schutzsuchenden ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form der schwerwiegenden Freiheitsberaubung darstellt (siehe Frage 2). Daher fordert das ECCHR die Chefanklage des IStGH dringend auf, diese Vorwürfe zu untersuchen und Daten zu sammeln, um sie als zulässige Beweismittel zu verwenden. Hierbei sollte die Chefanklage des IStGH alle damit verbundenen Risiken berücksichtigen und die zum Schutz der Überlebenden und Zeug*innen erforderlichen Maßnahmen ergreifen.

In dieser Strafanzeige wird das „Abfangen“ definiert als der physische Akt des Aufgreifens von Schutzsuchenden in Seenot mit dem Ziel, sie nach Libyen zurückzuführen. Die Absicht, die Schutzsuchenden nach Libyen zurückzuführen, ein offensichtlich unsicherer Ort, unterscheidet das Abfangen auf See von einer Seenotrettungsaktion. Grundlegende Vorschriften des Internationalen Seerechts, internationaler Such- und Rettungsvorschriften, des Internationalen Flüchtlingsrechts, und der Menschenrechte 2013 insbesondere das non-refoulement-Gebot – verbieten die Rückführung der Menschen in Seenot in ein Land, in dem sie voraussichtlich einem ernsthaften Risiko für ihre Sicherheit oder für die Ausübung ihrer Menschenrechte ausgesetzt sind. 

Das Internationale Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See von 1974 und das Internationale Übereinkommen zur Seenotrettung von 1979 verpflichten dazu, Menschen in Seenot zu retten und an einen „sicheren Ort“ zu bringen, an dem die Menschenrechte, insbesondere das non-refoulement-Gebot, gewahrt werden. Gemäß der Resolution MSC.167(78) der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation (IMO), die Leitlinien zur Behandlung von auf See geretteten Personen aufstellt („IMO-Leitlinien“), setzt ein solcher „sicherer Ort“ voraus, dass dort zumindest das Leben der Überlebenden nicht mehr gefährdet ist, ihre grundlegenden Bedürfnisse befriedigt werden können und sie dort Vorkehrungen für ihre Beförderung an ihr nächstes oder endgültiges Ziel treffen können. Zudem verbietet das Völkergewohnheitsrecht den Staaten, Rückführungen – unabhängig vom Schutzstatus – durchzuführen, wenn eine realistische Gefahr besteht, dass die Menschen dort Verfolgung, Folter, unmenschlicher Behandlung oder anderen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. Dieser einklagbare Grundsatz ist in verschiedenen Konventionen festgehalten, etwa dem Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte, der UN-Antifolterkonvention und der Genfer Flüchtlingskonvention. 

Das Abfangen auf See und die Rückführung nach Libyen von Schutzsuchenden verletzt das non-refoulement-Gebot. Es ist sehr gut dokumentiert, dass Libyen die Kriterien für die Einstufung als „sicherer Ort“ im Sinne der Seenotrettung nicht erfüllt. Verschiedene UN-Organisationen und UN-Beamt*innen haben dies bereits klargestellt, darunter der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), die Internationale Organisation für Migration (IOM), und der UN-Generalsekretär in seinen Berichten an den UN-Sicherheitsrat zur Umsetzung der Resolution 2437(2018). Im Jahr 2021 bestätigte die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache Hirsi Jamaa und andere gegen Italien (Beschwerde Nr. 27765/09) ebenfalls, dass Schutzsuchende, die in Libyen abgesetzt werden, dem Risiko von Misshandlungen sowie willkürlicher Inhaftierung unter unmenschlichen Bedingungen ausgesetzt sind. Auch die Menschenrechtskommissarin des Europarats kam zu demselben Schluss.

Seit Jahren gilt die Route im Zentralen Mittelmeer als eine der tödlichsten Migrationsrouten weltweit. Nach Angaben des Missing Migrants Project sind seit 2014 mindestens 20.000 Schutzsuchende, die diese Route über das Zentrale Mittelmeer mangels legaler Fluchtwege nach Europa nehmen mussten, gestorben oder verschwunden. Zwar hat dies viele sich überschneidende Ursachen. Jedoch nimmt die Entscheidung EU-Agenturen und der Regierungen der Mitgliedstaaten, die Grenzkontrolle gegenüber der Seenotrettung zu priorisieren, mutmaßlich eine zentrale Rolle ein. Seit den frühen 2000er Jahren haben die EU und bestimmte Mitgliedstaaten wie Italien und Malta eine Migrationsmanagementpolitik verfolgt, die irreguläre Migration nach Europa bekämpfen möchte. Solche Politik beinhalten die Zusammenarbeit mit libyschen Autoritäten und Einrichtungen, um Schutzsuchende von der Flucht über das Zentrale Mittelmeer abzuhalten, und im Fall der Flucht zurück nach Libyen zu bringen. 

Die Zusammenarbeit der EU-Agenturen (unter anderem EU-Kommission, EUNAVFOR MED und Frontex) und der Mitgliedstaaten (wie beispielsweise Italien und Malta) mit Libyen ist stark vom Interesse der EU und ihrer Mitgliedstaaten geprägt, rechtliche Verpflichtungen zu umgehen, die bei Ankunft der Schutzsuchenden in der EU oder auf hoher See unter Kontrolle der EU oder ihrer Mitgliedstaaten entstünden. Daher begannen die EU-Agenturen und Mitgliedstaaten insbesondere seit 2016 damit, libysche Akteure wie die sogenannte libysche Küstenwache durch Zurverfügungstellung von Material, kapazitätsbildende Maßnahmen und operative Zusammenarbeit zu unterstützen. So soll die Ankunft von Schutzsuchenden in der EU dadurch verhindert werden, dass die Schutzsuchenden bereits vorher auf See abgefangen und in libysches Hoheitsgebiet zurückgeführt werden. Wie in der Strafanzeige beschrieben, erreichen diese mutmaßlich kriminellen Handlungen die Schwelle der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die operative Unterstützung der sogenannten libyschen Küstenwache durch die EU und die Mitgliedstaaten umfasst die Übermittlung von Informationen über den Standort von sich in Seenot befindlichen Booten sowie die Koordinierung bestimmter Abfangvorfälle. Diese Unterstützung verdeutlicht die Schlüsselrolle, die die EU und die Mitgliedstaaten bei Abfangvorfällen und der anschließenden Rückführung von Schutzsuchenden nach Libyen – dem Ort, von dem die Schutzsuchenden geflohen sind – spielt.

Mit dieser Strafanzeige fordert das ECCHR die Chefanklage des IStGH auf, im Fall der mutmaßlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Schutzsuchende auf See und anschließend in Libyen zu ermitteln und hierbei auch die völkerstrafrechtliche Verantwortlichkeit hochrangiger Beamt*innen der EU-Agenturen und Mitgliedstaaten zu untersuchen. Das ECCHR setzt sich für einen IStGH ein, der sein Versprechen der völkerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit für Verbrechen gegenüber allen Überlebenden, Opfern und betroffenen Gemeinschaften – inklusive Schutzsuchenden, die in Libyen Opfer schwerer Verbrechen wurden – einlöst. Indem sich das ECCHR dafür einsetzt, dass auch hochrangige Beamt*innen der EU-Agenturen und der Mitgliedstaaten für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden, verfolgt es mit seiner Arbeit auch das Anliegen, Doppelstandards in der Anwendung des Völkerstrafrechts sowie die Rolle mächtiger Akteur*innen bei der Begehung, Untersuchung und Verfolgung von Völkerstraftaten aufzudecken. 

Die EU-Migrationssteuerungspolitik und -praktiken im Zentralen Mittelmeer gehen derzeit einher mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit – eine entsetzliche Realität, die ein Ende finden muss. In vorherrschenden staatlichen Narrativen werden die Politik und Praktiken der EU-Agenturen und Mitgliedstaaten im Zentralen Mittelmeer – insbesondere das Abfangen auf See und die Rückführung von Schutzsuchenden nach Libyen – als Such- und Rettungsaktionen dargestellt. Dem Narrativ zufolge soll dadurch der Menschenhandel bekämpft werden und  die transnationale Migration in legitimer Weise gesteuert werden. Diese Strafanzeige legt Beweise und Analysen vor, die solche staatlichen Narrative widerlegen, indem klar dargestellt wird, dass es sich bei den Abfangmaßnahmen und Rückführungen nach Libyen vielmehr um schwere Völkerstraftaten handelt, die von hochrangigen Beamt*innen der EU-Agenturen und der Mitgliedstaaten in Zusammenarbeit mit international anerkannten libyschen Autoritäten begangen wurden. 

Ermittlungen durch den IStGH sind die einzige Möglichkeit, den Kreislauf der Straflosigkeit zu durchbrechen und die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit hochrangiger Täter*innen zu überprüfen. Bislang haben libysche Autoritäten versäumt, diese Verbrechen zu untersuchen und die Verantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen. Zudem fehlt es in Libyen an einem geeigneten Rechtsrahmen, Völkerstraftaten zu ahnden. Hinzu kommt, dass das libysche Justizsystem aufgrund des andauernden bewaffneten Konflikts und des Fehlens einheitlicher anerkannter Institutionen stark geschwächt ist. Hinsichtlich Verbrechen gegen die Schutzsuchende beschränkt die libysche Justiz ihre Untersuchungen strikt auf Schmuggel und Menschenhandel, was jedoch die ausgedehnte und systematische Natur dieser Verbrechen, die Schwere der Taten und die Mitschuld staatlicher Akteur*innen verkennt. In der EU lägen die zuständigen Gerichtsbarkeiten zur Untersuchung der genannten Vorfälle, insbesondere zur Verantwortlichkeit von Frontex- und EUNAVFOR MED-Beamt*innen, bei Malta und Italien. Allerdings sind beide Länder nicht willens und/oder fähig, Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen auf dem Mittelmeer abgefangene und nach Libyen zurückgeführte Schutzsuchende zu untersuchen, insbesondere wenn europäische Staatsangehörige beteiligt gewesen sein sollen.

Das ECCHR begrüßt die Bemühungen und Fortschritte des Joint Teams – bestehend aus der Chefanklage des IStGH, Europol und anderen nationalen Behörden Italiens, der Niederlande, des Vereinigten Königreichs und Spaniens – bei der Untersuchung von Verbrechen gegen Schutzsuchende im libyschen Kontext (siehe Frage 10). Allerdings beziehen sich die meisten der jüngsten Auslieferungen auf Verdächtige grenzüberschreitender Straftaten, insbesondere des Menschenhandels. Dieser Ansatz ist zwar ein wichtiger erster Schritt, Gerechtigkeit für die Überlebenden zu erreichen. Indes birgt dies die Gefahr, dass der schwerwiegende, koordinierte und systematische Aspekt der Gewalt gegen Schutzsuchende ausgeblendet und die Beteiligung von Beamt*innen der EU-Agenturen und der Mitgliedstaaten vernachlässigt wird.

Daher ist eine Ermittlung durch den IStGH dringend erforderlich. Der IStGH ist die am besten geeignetste Institution, die komplexen Netzwerke der europäisch-libyschen Zusammenarbeit und die daraus resultierenden Verbrechen gründlich und vollständig zu untersuchen. Nur der IStGH kann sich angemessen mit der strukturellen Dimension der begangenen Verbrechen befassen und auch hochrangige Täter*innen zur Rechenschaft ziehen, deren Immunität einer Strafverfolgung vor europäischen oder libyschen Gerichten entgegenstehen könnte. 

In Bezug auf die in dieser Strafanzeige von 2022 beschriebenen Straftaten könnten Überlebende oder Zeug*innen der zwölf in der Anzeige beschriebenen Vorfälle ihr Recht wahrnehmen, einen Beitrag zu den strafrechtlichen Ermittlungen zu leisten, indem sie vor dem IStGH oder nationalen Behörden offizielle Zeug*innenaussagen treffen oder in anderer Form Beweise vorlegen. 

Das ECCHR hat bereits im Zusammenhang mit der 2021 in Kooperation mit FIDH und LFJL beim IStGH eingereichten Strafanzeige Überlebende von Verbrechen gegen Schutzsuchende unterstützt. Wir stehen in ständigem Austausch mit Überlebenden und hoffen, dass noch mehr von ihnen ihre Rechte wahrnehmen, in strafrechtliche Ermittlungen einbezogen und offizielle Zeug*innenaussagen tätigen können. Dafür ist von grundlegender Bedeutung, dass die Überlebenden in sicheren und stabilen Verhältnissen leben können und Zugang zu rechtlicher sowie, falls erforderlich, psychosozialer Unterstützung haben.

Im September 2022 schloss sich die Chefanklage des IStGH dem Joint Team einiger europäischer Behörden (Italien, Niederlande, Vereinigtes Königreich Großbritannien, Nordirland, Spanien) und Europol an, um die Ermittlungen zu Verbrechen gegen Schutzsuchende in Libyen zu unterstützen. Im Rahmen der Arbeit des Joint Teams gelang es, zwei im Oktober 2022 in Äthiopien verhaftete Verdächtige, die mutmaßlich am Menschenhandel mit Schutzsuchenden in Libyen beteiligt waren, an Italien bzw. die Niederlande auszuliefern. Zwar begrüßt das ECCHR die Arbeit des Joint Team, die zu diesem Erfolg führte. Indes ist es klar, das nach wie vor der IStGH das einzige Forum ist, das in der Lage ist Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Schutzsuchende in Libyen zu untersuchen und zu verfolgen. Wie die beiden jüngsten Verhaftungen und Auslieferungen veranschaulichen, klagen viele nationale Behörden die Verdächtigen immer noch wegen des Menschenhandels und -schmuggels, nicht aber wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit an. Eine solche Anklage ist zwar wichtig, allerdings erfasst nur letzteres den systematischen Charakter des ausbeuterischen Systems des Missbrauchs, dem Schutzsuchende in Libyen ausgesetzt sind. Zudem wird die wichtige Rolle hochrangiger Beamt*innen der EU-Agenturen und Mitgliedstaaten in diesem System der Ausbeutung außer Acht gelassen. 

Viele nationale Gerichtsbarkeiten sind derzeit aufgrund ihres rechtlichen Rahmens nicht ausreichend in der Lage, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen. Italien beispielsweise verfügt nicht über die dafür erforderlichen Rechtsvorschriften. Die Niederlande verfügen zwar über Rechtsvorschriften, die das Weltrechtsprinzip in den innerstaatlichen Rechtsrahmen aufnehmen, sodass die Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit grundsätzlich möglich ist. Allerdings setzt das niederländische Recht voraus, dass sich ein Verdächtiger im Hoheitsgebiet der Niederlande befindet, was die praktische Anwendbarkeit des Gesetzes gegen Verdächtige, deren Aufenthaltsort zwar bekannt ist, die sich aber außerhalb der Niederlande aufhalten, vereitelt. Daher muss der IStGH mehr tun: Der IStGH verfügt nicht nur über den notwendigen Rechtsrahmen, sondern auch über die erforderlichen Instrumente und Möglichkeiten, größere Ermittlungen in komplexen kriminellen Netzwerken durchzuführen und hochrangige Täter*innen zu ergreifen. Bezüglich hochrangiger EU-Beamt*innen ist der IStGH bestens ausgestattet, mögliche Beanstandungen aufgrund der Immunität von Staatsoberhäuptern vor nationalen Gerichten sowie politische Hürden zu überwinden, die nationale Verfahren beeinträchtigen könnten. Trotzdem scheint die IStGH-Chefanklage ausweislich ihres Berichts an den UN-Sicherheitsrat vom November 2022 immer noch die Strategie zu verfolgen, bezüglich „Verbrechen gegen Migrant*innen“ mit nationalen Behörden zusammenzuarbeiten und ihnen die Strafverfolgung zu übertragen. Diese 2022 durch das ECCHR beim IStGH eingereichte Strafanzeige beschreibt die Unzulänglichkeit des von der Chefanklage des IStGH gewählten Ansatzes und fordert sie auf, die eigenen Bemühungen bei der Untersuchung von Verfolgung von Verbrechen gegen Schutzsuchende in Libyen auszuweiten. Hierbei sollte insbesondere auf die Rolle europäischer Staatsangehöriger eingegangen werden, die solcher Verbrechen verdächtigt werden. 

Während seines Berichts an den UN-Sicherheitsrat am 11. November 2022 erklärte der Chefankläger des IStGH, Karim Khan, dass den Richter*innen des IStGH weitere Anträge auf Haftbefehle im Zusammenhang mit den in Libyen begangenen Verbrechen vorgelegt wurden. Es scheint zwar klar zu sein, dass diese Haftbefehle in Zusammenhang mit den in Hafteinrichtungen begangenen Straftaten stehen. Unklar ist noch, ob die mutmaßlichen Straftaten speziell auf Schutzsuchende beziehen. Zudem ist, ausgehend von öffentlich verfügbaren Informationen, sehr wahrscheinlich, dass sich die Haftbefehle gegen libysche Einzelpersonen und nicht gegen Beamt*innen der EU-Agenturen und Mitgliedstaaten richten. Obwohl das ECCHR diese Entwicklungen grundsätzlich begrüßt, muss der IStGH seine Ermittlungen auch auf die besonders vulnerable Gruppe der Schutzsuchenden in Libyen richten. Hierbei muss die wesentliche Rolle von Beamt*innen der EU-Agenturen und Mitgliedstaaten in der Begehung dieser Verbrechen, insbesondere der schweren Freiheitsberaubung durch das Abfangen auf See und die Rückführung nach Libyen, untersucht werden. Der IStGH muss eingreifen, um die Straflosigkeit zu beenden und den Opfern Zugang zu Gerechtigkeit zu gewährleisten.

Das Abfangen von Schutzsuchenden, unter ihnen Frauen und Kinder, und ihre Rückführung nach Libyen führen dazu, dass sie in Libyen systematisch in Haftzentren gebracht werden. In diesen Haftzentren sind sie weiteren Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgesetzt, die weit verbreitet und gut dokumentiert sind. Die 2021 durch das ECCHR in Kooperation mit FIDH und LFJL beim IStGH eingereichte Strafanzeige enthält Zeug*innenaussagen direkt Betroffener und Analysen anderer in libyschen Hafteinrichtungen begangener Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dazu gehören sowohl verschiedene Formen sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt sowie Verbrechen gegen Kinder. Während überhaupt keine*r der auf See abgefangenen und nach Libyen zurückgeführten Schutzsuchender willkürlich inhaftiert werden sollte, ist es verwunderlich, dass es keine besonderen Schutzmaßnahmen für minderjährige Kinder oder unbegleitete Minderjährige gibt, die auf See abgefangen werden. Sie werden wie Erwachsene behandelt und in dieselben Hafteinrichtungen verbracht. Daher sind sie bei der Rückführung nach Libyen denselben Rechtsverletzungen und Verbrechen ausgesetzt wie Erwachsene.

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