Die Strafanzeige analysiert die Entwicklung der Grenz- und Migrationspolitik der EU und einiger Mitgliedstaaten in Bezug auf Libyen (siehe Frage 6). Seit spätestens 2016 fokussiert sich die Kooperation zwischen EU-Agenturen und Mitgliedstaaten einerseits und international anerkannten libyschen Autoritäten andererseits darauf, die Kapazitäten libyscher Akteur*innen auszubauchen, um Schutzsuchende verstärkt auf dem Mittelmeer abzufangen und nach Libyen zurückzuführen. Die Strafanzeige erläutert detailliert anhand von zwölf beispielhaften Abfang- und Rückführungsvorfällen zwischen 2018 und 2021, wie diese Kooperation in der Realität abläuft. Die Vorfälle wurden ausgewählt, weil sie ein besonders klares und detailliertes Bild von der Zusammenarbeit zwischen den EU-Agenturen, Mitgliedstaaten und den libyschen Akteur*innen auf politischer und operativer Ebene bei der Durchführung der Abfang- und Rückführungsaktionen vermitteln.
Die Vorfälle umfassen Abfangmaßnahmen, die an folgenden Daten stattfanden: 28. Februar 2018, 7. November 2018, 10. April 2019, 2. Mai 2019, 18. Oktober 2019, 12. Februar 2020, 13-14. April 2020, 14. Juli 2020, 10. Februar 2021, 28. März 2021, 21. April 2021 und 30. Juli 2021.
Die Darstellung und Analyse dieser Vorfälle stützt sich auf die operative Dokumentation sowie die faktischen und rechtlichen Recherchen des ECCHR und verschiedener anderer Organisation, darunter SeaWatch, Initiative Watch the Med–Alarm Phone, Mediterranea, Open Arms, Border Forensics, Frag den Staat, Amnesty International, Human Rights Watch, und Lighthouse Reports. Die Strafanzeige stützt sich auch auf zusätzliche Informationen, die aus zuverlässigen öffentlichen Berichten und Open-Source-Daten gesammelt und analysiert wurden, inter alia von UN-Organisationen wie dem UN-Hochkommissar für Geflüchtete (UNHCR), der Internationalen Organisation für Migration (IOM), dem Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte (OHCHR), der Unabhängigen Untersuchungskommission für Libyen (FFM), dem UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte von Migrant*innen, der UN-Unterstützungsmission in Libyen (UNSMIL) und dem UN-Expert*innengremium für Libyen. Die vom UNHCR und der IOM gesammelten Daten bieten wichtige Einblicke in den Ablauf der „Entladung“ der abgefangenen Schutzsuchenden und ihren weiteren Transfer in libysche Haftanstalten. Die Daten indizieren, dass dies im Rahmen eines systematischen Vorgehens geschieht.
Andere Quellen umfassen interne EU-Berichte, Dokumente oder Datensätze, die durch öffentlich zugängliche Plattformen oder sogenannte Informationsfreiheitsanfragen (FOIA) erlangt wurden. Die Ergebnisse des Berichts des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF) über Fehlverhalten von Frontex lieferten weitere hilfreiche Einsichten in die allgemeine interne Arbeitsweise von Frontex. Über Frag den Staat konnte das ECCHR Zugang zur Frontex-Datenbank Joint Operations Reporting Application (JORA) erhalten, die Ereignisse an den EU-Außengrenzen dokumentiert. Nichtsdestotrotz erschwert die undurchsichtige Arbeitsweise verschiedener europäischer Stellen, insbesondere von Frontex, zivilgesellschaftlichen Organisationen den Zugang zu Informationen durch öffentlich zugängliche Quellen oder FOIA. Daher ist es besonders wichtig, dass durch die Ermittlungsbefugnisse des IStGH vertrauliche Informationen erlangt werden können, die sonst nicht zu erlangen sind.
Basierend auf den Analysen der untersuchten Vorfälle stellt diese Strafanzeige dar, dass das Abfangen und die zwangsweise Rückführung mit anschließender Inhaftierung von Schutzsuchenden ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form der schwerwiegenden Freiheitsberaubung darstellt (siehe Frage 2). Daher fordert das ECCHR die Chefanklage des IStGH dringend auf, diese Vorwürfe zu untersuchen und Daten zu sammeln, um sie als zulässige Beweismittel zu verwenden. Hierbei sollte die Chefanklage des IStGH alle damit verbundenen Risiken berücksichtigen und die zum Schutz der Überlebenden und Zeug*innen erforderlichen Maßnahmen ergreifen.