Kriminalisierung von Seenotrettung

Italiens Verfassungsgericht prüft umstrittenes Gesetzes, das zivile Rettungsaktivitäten massiv bestraft

20.05.2025

Am 21. Mai wird das italienische Verfassungsgericht erstmals Argumente zur Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes prüfen, das Sanktionen gegen Seenotrettungsorganisationen vorsieht. Das berichteten heute Human Rights Watch (HRW) und das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Beide Organisationen haben an diesem historischen Verfahren mitgewirkt und schriftliche Stellungnahmen zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen Italiens eingereicht.

„Die Entscheidung des Verfassungsgerichts könnte weitreichende Auswirkungen auf Italiens maritime Politik und den Schutz der Menschenrechte an den Grenzen Europas und auf See haben“, sagt Judith Sunderland, stellvertretende Direktorin für Europa und Zentralasien bei HRW. „Unsere Organisationen haben sich an diesem Fall beteiligt, weil grundlegende Rechte und Prinzipien auf dem Spiel stehen – es geht darum, auf See Leben zu retten und Menschen vor traumatisierenden Übergriffen zu schützen.“

„Humanitäre Rettungskräfte sollten nicht dafür bestraft werden, dass sie Befehle verweigern, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Folge hätten“, sagt Allison West, Senior Legal Advisor beim ECCHR. “Das Völkerrecht verpflichtet Italien, solche Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, statt sie zu ermöglichen.“

Der Fall

Im Mittelpunkt des Verfahrens stehen italienische Regierungsmaßnahmen, die Rettungskapazitäten im zentralen Mittelmeer – einer der tödlichsten Migrationsrouten der Welt – stark beschränken. Im Oktober 2024 wandte sich das Gericht in Brindisi mit drei Fragen an das Verfassungsgericht. Sie betreffen das sogenannte Piantedosi-Dekret. Es ermöglicht italienischen Behörden, Rettungsschiffe mit Geldstrafen zu belegen und festzusetzen. Als eine der zahlreichen Begründungen dafür führt das Dekret die angebliche Nichtbefolgung von Anweisungen der libyschen Küstenwache an.

Zu klären ist nun, ob Bestimmungen des Piantedosi-Dekrets gegen Grundsätze der italienischen Verfassung wie Verhältnismäßigkeit, Angemessenheit und Rechtsklarheit verstoßen. Gleichzeitig geht es um die Frage, ob sie verbindlichen völkerrechtlichen Verpflichtungen sowie dem EU-Recht entsprechen. Diese Einwände waren ursprünglich von der Nichtregierungsorganisation SOS MEDITERRANEE vorgebracht worden, in einer Klage gegen die mit dem Dekret begründete Festsetzung ihres Rettungsschiffs Ocean Viking durch italienische Behörden.

Die Argumentation

In separaten, vom Verfassungsgericht zugelassenen, Amicus Curiae-Stellungnahmen argumentieren HRW und ECCHR, dass die Verpflichtung von Rettungsschiffen, den Anweisungen der libyschen Küstenwache zu folgen, gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstößt. Dieser Grundpfeiler des Völkerrechts verbietet die Zurückführung von Personen an Orte, an denen ihnen ernsthafte Gefahren drohen. Libyen, wo Migrant*innen und Geflüchtete systematisch willkürlicher Inhaftierung, unmenschlichen Haftbedingungen, Folter, Misshandlung, Ausbeutung, Erpressung und sexueller Gewalt ausgesetzt sind, kann nicht als sicherer Ort für aus Seenot gerettete Menschen bezeichnet werden.

Das ECCHR argumentiert in seiner Stellungnahme, dass die Befolgung libyscher Such- und Rettungsanweisungen die Gefahr birgt, sich an Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einschließlich Versklavung, zu beteiligen.

HRW betont in seinem Rechtsgutachten die eindeutig bewiesenen Misshandlungen von Migrant*innen in Libyen. Verbunden mit der Zusammenarbeit libyscher Küstenwachen-Einheiten und anderer Quasi-Sicherheitskräfte mit Schmugglergruppen folgt daraus, dass die libysche Küstenwache in Such- und Rettungsoperationen kein zuverlässiger Akteur mit Weisungsbefugnis sein kann.

Hintergrund

Seit 2017 unterstützen Italien und die Europäische Union die libysche Küstenwache finanziell, technisch und operativ, obwohl immer wieder Berichte über ihre Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen vorliegen. Im Jahr 2023 stellte die unabhängige Untersuchungsmission der Vereinten Nationen zu Libyen fest, dass „erhebliche Gründe zu der Annahme bestehen“, dass Migranten*innen und Geflüchtete in Libyen Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind, darunter Folter, Versklavung und willkürliche Inhaftierung.

Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration sind seit 2014 fast 32.000 Menschen bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen, im Mittelmeer ums Leben gekommen oder verschwunden. Seit Libyen 2018 mit Unterstützung Italiens seine eigene Seerettungszone einrichtete, haben dortige Küstenwache-Einheiten mehr als 132.000 Menschen abgefangen und nach Libyen zurückgebracht.

An der Anhörung am 21.5.2025 werden Judith Sunderland und Aisling Reidy von HRW teilnehmen. Sie, sowie Allison West und Chantal Meloni vom ECCHR, stehen im Anschluss für Fragen und Kommentare zur Verfügung.
 

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Wer wir sind

Dem Unrecht das Recht entgegensetzen – das ist das erklärte Ziel und die tägliche Arbeit des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR).

Das ECCHR ist eine gemeinnützige und unabhängige Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Berlin. Sie wurde 2007 von Wolfgang Kaleck und weiteren internationalen Jurist*innen gegründet, um die Rechte, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie anderen Menschenrechtsdeklarationen und nationalen Verfassungen garantiert werden, mit juristischen Mitteln durchzusetzen.

Gemeinsam mit Betroffenen und Partner*innen weltweit nutzen wir juristische Mittel, damit die Verantwortlichen für Folter, Kriegsverbrechen, sexualisierte Gewalt, wirtschaftliche Ausbeutung und abgeschottete Grenzen nicht ungestraft davonkommen.

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