Brutale Verfolgung von LGBTQ* in Tschetschenien

Tschetschenien – Repression – LGBTQ*

Allein von 2017 bis 2020 verhafteten tschetschenische Sicherheitskräfte willkürlich mehr als 150 Menschen, brachten sie ins Gefängnis und folterten sie. Die meisten waren homo- oder bisexuelle Männer. Der Grund: Sie entsprechen nach Auffassung der Regierung nicht dem heterosexuellen Männlichkeitsbild in Tschetschenien und werden deswegen systematisch verfolgt.

Weil die Verbrechen der tschetschenischen Regierung auf nationaler Ebene nicht aufgearbeitet werden, reichten das ECCHR und seine Partnerorganisation Sphere Foundation/Russian LGBT Network im Februar 2021 Strafanzeige in Deutschland ein. Die Bundesanwaltschaft eröffnete jedoch bislang keine personenbezogenen Ermittlungsverfahren, begleitet die Situation aber weiterhin im Rahmen eines Beobachtungsvorgangs.

Fall

Seit vielen Jahren leidet die Zivilbevölkerung in der tschetschenischen autonomen Republik unter schweren Menschenrechtsverletzungen durch Regierungskräfte. Zuletzt hat die Gewalt besonders LGBTQ*-Personen getroffen, also Menschen, deren Geschlecht, Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung von der zweigeteilten und heterosexuellen Geschlechtertrennung abweichen. Weil Russland sich weigert zu ermitteln, bleiben die Verbrechen gegen sie bisher ungestraft.

Doch in Deutschland kann der Generalbundesanwalt bei schweren, systematischen Verbrechen nach dem sogenannten Weltrechtsprinzip auch tätig werden, wenn diese Verbrechen keinen direkten Bezug zu Deutschland haben. In der Strafanzeige fordern wir die deutschen Justizbehörden deshalb auf, Verantwortliche für die Gewalt gegen LGBTQ* zu ermitteln und Haftbefehle zu erlassen.

Kontext

Die massive Verfolgung von vornehmlich LGBTQ*-Männern begann im Februar 2017. Seitdem gehen tschetschenische Sicherheitskräfte gewaltsam gegen Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und ihrer „nicht-konformen“ Männlichkeit vor. In Gefängnissen und inoffiziellen Haftzentren werden die Betroffenen gedemütigt, gefoltert und gezwungen, ihre persönlichen Kontakte offenzulegen. Mit den so erpressten Informationen finden die Sicherheitskräfte dann gezielt weitere LGBTQ*.

Zudem haben russische Menschenrechtsorganisationen und Journalist*innen auch sogenannte Ehrenmorde dokumentiert, bei denen Familienmitglieder ihre LGBTQ*-Angehörigen umbrachten – unter dem Druck tschetschenischer Beamt*innen.

Media

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Grundlagen

Fragen und Antworten zur juristischen Grundlage der Strafanzeige

Gegenstand der Strafanzeige an den Generalbundesanwalt sind versuchte Anstiftung zur Tötung, Ausrottung, Folter, Verschwindenlassen, Zufügung schwerer körperlicher und seelischer Schäden, Freiheitsentzug sowie Verfolgung von mehr als 150 Personen. Die meisten Betroffenen der Gewalt durch tschetschenische Sicherheitskräfte sind schwule oder bisexuelle Männer, aber auch Transgender und genderqueere Personen sowie lesbische und bisexuelle Frauen. Die Einzeltaten wurden im Kontext eines systematischen und ausgedehnten Angriffs gegen LGBTQ* begangen und stellen deshalb Völkerstraftaten nach dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) dar.

Die in der Anzeige genannten Straftaten wurden in mehreren Städten der Tschetschenischen Republik zwischen 2017 und 2019 begangen. Es gibt jedoch Berichte, dass ähnliche Straftaten auch im Jahr 2020 weiterhin begangen wurden.

Die tschetschenische Gesellschaft ist stark durch konservative und patriarchalische Werte geprägt. Die heutigen Normen und gesellschaftlichen Regeln entstanden aus dem jahrhundertalten tschetschenischen Gewohnheitsrecht (Adat), das eine starke heteronormative Rollenzuschreibung vorsieht – also eine klare Trennung zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht und ihrer jeweiligen Rolle in der Gesellschaft. Diese Rollenzuschreibung greift in viele Lebensbereiche der Tschetschen*innen ein und äußert sich in strikten geschlechtsbezogenen Regeln, wie etwa der Kopftuchpflicht für Frauen oder der Akzeptanz von Polygamie für Männer. Die sexuelle Orientierung unterliegt ebenfalls der strikten heteronormativen Regelung, sodass jegliches Ausleben einer nicht-heterosexuellen Identität als Verstoß gegen die Norm gesehen wird – obwohl Homosexualität nach dem russischen Recht, das auch in Tschetschenien gilt, keine strafbare Handlung darstellt.

Die heteronormativen und patriarchalen Werte werden von der tschetschenischen Regierung weitgehend als „ungeschriebene Gesetze“ propagiert und als Rechtfertigung für die Unterdrückung verschiedener Gruppen genutzt, vor allem von LGBTQ*. Mehrfach haben tschetschenische Beamt*innen behauptet, in der Republik gebe es keine LGBTQ*-Personen. In einem Interview mit dem US-Fernsehsender HBO beschrieb der Präsident der Republik, Ramsan Kadyrow LGBTQ* als „teuflisch“ und „Unmenschen“. Auch Kheda Saratova, Kadyrows Beraterin und Vertreterin des tschetschenischen Menschenrechtsrats, erklärte in einem Interview, dass das Ausleben einer nicht-heterosexuellen Orientierung gegen die Traditionen verstoße und deswegen solange bekämpft werde, bis es keine LGBTQ*-Personen mehr in Tschetschenien gebe. Diese Aussagen manifestieren die tiefgehende Vergeschlechtlichung der Gesellschaft, die eine unbedingte Einhaltung der Heteronormativität einfordert. Zugleich zeigen diese Aussagen, dass die tschetschenische Regierung ausdrücklich auf die Unterdrückung und Ausrottung der LGBTQ*-Personen als Gruppe abzielt.

Die Unterdrückung richtet sich besonders gegen homo- und bisexuelle tschetschenische Männer, die gezwungen sind, ihre Homosexualität zu verstecken, um dem in der tschetschenischen Gesellschaft verankerten Bild der Männlichkeit zu entsprechen. So werden homo- und bisexuelle Männer von ihren Verwandten gezwungen, Frauen zu heiraten, um eine traditionelle Familie zu gründen. Ein homosexuelles Familienmitglied wird oft als Schande angesehen. Aus diesem Kontext heraus wird von den tschetschenischen Behörden Druck auf Familienmitglieder von LGBTQ*-Personen ausgeübt, das Ansehen der Familie durch das Töten des homo- oder bisexuellen Verwandten wiederherzustellen.

Seit 2017 werden LGBTQ* intensiv verfolgt. Die Handlungen der Täter deuten darauf hin, dass den Betroffenen ihre Männlichkeit abgesprochen werden soll. So wurden den Betroffenen bei der Inhaftierung weibliche Namen gegeben und ihre Bärte abrasiert, um sie äußerlich dem entsprechenden Bild einer Frau anzupassen. Mehrmals wurde Gefangenen gesagt, sie seien aufgrund ihrer sexuellen Orientierung keine Männer und dies sei Grund genug für die Misshandlungen.

Die genannten Taten wurden in Russland nicht aufgeklärt. Zwar wurden durch die russischen Strafverfolgungsbehörden seit 2017 Aufklärungsmaßnahmen ergriffen, diese waren aber unzureichend und hatten weder die tatsächliche Aufklärung der Verbrechen noch die Identifizierung der Verantwortlichen zum Ziel. Die Entscheidung der Strafverfolgungsbehörden, die Aufklärungsmaßnahmen einzustellen, ohne einen einzelnen Tatverdächtigen identifiziert zu haben, spricht dafür, dass diese Maßnahmen nur zum Schein durchgeführt wurden. Insofern gab es keinerlei strafrechtliche oder disziplinarrechtliche Konsequenzen für die Täter.

Das ECCHR und das Russian LGBT Network berufen sich auf das sogenannte Weltrechtsprinzip, das 2002 mit dem Völkerstrafgesetzbuch in Deutschland in Kraft trat. Laut diesem Prinzip betreffen schwerste Verbrechen wie Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht nur Individuen oder einzelne Länder, sondern die internationale Gemeinschaft als Ganze. Wenn internationale Foren für die strafrechtliche Aufarbeitung nicht zur Verfügung stehen, kann das Weltrechtsprinzip einen alternativen Weg über nationale Verfahren darstellen. Das erlaubt es Deutschland (und anderen Staaten, in denen das Weltrechtsprinzip gilt), Völkerstraftaten zu verfolgen, unabhängig davon, wer sie begangen hat, wo sie begangen wurden oder gegen wen sie gerichtet waren. In der Anzeige werden zudem Bezugspunkte zu Deutschland und der EU näher ausgeführt.

Die juristische Aufarbeitung würde den langjährigen Bemühungen der Bundesregierung folgen, die angezeigten Straftaten im Rahmen des Menschenrechtsschutzsystems des Europarats sowie der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) aufzudecken. Deutschland hat die Einleitung des Wiener Mechanismus der OSZE im August 2018 mit-initiiert, der eine Aufklärung der Straftaten gegen LGBTQ*-Personen seitens Russland einforderte. Aufgrund der mangelhaften Antwort der russischen Regierung leiteten im November 2018 16 OSZE-Mitgliedstaaten, auch Deutschland, den Moskauer Mechanismus ein, um die Straftaten durch den Einsatz einer Ermittlungskommission aufzudecken. Seit der Veröffentlichung der Ermittlungsergebnisse durch die OSZE sowie durch die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) erfolgten seitens russischer Regierung keine weiteren Schritte, um den Menschenrechtsschutzstandards der OSZE oder des Europarats gerecht zu werden. Mit einer Ermittlung der Straftaten und dem Erlass von Haftbefehlen gegen die Tatverdächtigen würde Deutschland einen wichtigen Beitrag zur Aufrechterhaltung des europäischen Menschenrechtsschutzsystems und des Völkerrechts leisten sowie ein wichtiges Signal an die russischen Behörden senden, dass die Straflosigkeit in Russland nicht akzeptiert wird.

Die Strafanzeige basiert vornehmlich auf Informationen des Russian LGBT Network, das viele Betroffene zur Dokumentation der Straftaten befragte. Darüber hinaus beruht die Anzeige auf Informationen von unabhängigen russischen Journalist*innen und Mitarbeiter*innen von Human Rights Watch. Im Zuge ihrer Recherchen befragten sie Betroffene und sammelten Informationen zu den Kommandostrukturen des tschetschenischen Sicherheitsapparats.

Weiterhin stützt sich die Anzeige auf Informationen, die die OSZE, das Europäische Komitee des Europarates zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT Komitee) sowie PACE zu den angezeigten Straftaten gesammelt und in ihren Berichten veröffentlichten. Das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat im Länderreport zu den Straftaten an LGBTQ* in Tschetschenien 2019 ebenfalls hilfreiche Informationen vorgetragen, auf die sich die Strafanzeige zum Teil bezieht.

Sphere Foundation/Russian LGBT Network ist eine russlandweite NGO mit Sitz in Sankt-Petersburg, die sich für Gleichberechtigung der Personen einsetzt, die sich als LGBTIQ* identifizieren. Nach den ersten Meldungen über die in Tschetschenien begangenen Straftaten im Februar 2017 hat sich das LGBT Network zur Aufgabe gemacht, die Betroffenen sowie in Einzelfällen ihre Familienangehörigen aus Sicherheitsgründen zunächst in andere Regionen innerhalb Russlands und gegebenenfalls später ins Ausland zu bringen. Seit April 2017 hat das LGBT Network über 235 Personen dabei unterstützt, Tschetschenien zu verlassen und hat die Betroffenen befragt. Die dadurch erworbenen Informationen über die Tatorte, Tatverdächtigen sowie das Ausmaß der Straftaten wurden in mehreren Berichten des Netzwerks veröffentlicht, auch in deutscher Sprache.

Die Strafanzeige wurde mit dem Ziel eingereicht, den deutschen Strafverfolgungsbehörden wichtige Informationen über die zwischen 2017 und 2019 in der Tschetschenischen Republik der Russischen Föderation begangenen Völkerrechtsverbrechen zur Verfügung zu stellen sowie beim Generalbundesanwalt zu beantragen, Ermittlungen bezüglich der zur Anzeige gebrachten Völkerrechtsverbrechen sowie zu den dafür verantwortlichen Tätern einzuleiten. Auf Grundlage der gesammelten Erkenntnisse und Informationen sollte anschließend ein Strukturermittlungsverfahren sowie personenbezogene Verfahren gegen die genannten Tatverdächtigen eingeleitet werden. Im nächsten Schritt sollten Haftbefehle gegen die Tatverdächtigen erlassen und sie international zur Fahndung ausgeschrieben werden.

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Definition

Generalbundesanwaltschaft

Die Generalbundesanwaltschaft ist Deutschlands oberste Strafverfolgungsbehörde.

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Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Verbrechen gegen die Menschlichkeit – definiert als ein systematischer Angriff auf die Zivilbevölkerung – geschehen nicht einfach. Vielmehr werden sie geplant, angeordnet oder zumindest gebilligt – und zwar häufig von höchster Stelle, von Staats- und Regierungschef*innen persönlich, durch ihre Beamt*innen oder hochrangige Angehörige des Militärs. In manchen Fällen sind auch Unternehmen direkt oder indirekt daran beteiligt.

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