Definition
Kriegsverbrechen
Kriegsverbrechen sind schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, die in bewaffneten Konflikten begangen werden.
Mehr AnzeigenDie enorme Zahl der getöteten Zivilpersonen und die tägliche Sterberate - beispiellos im 21. Jahrhundert - sowie die massive Zerstörung der zivilen Infrastruktur im Gazastreifen, die das Gebiet möglicherweise "unbewohnbar" macht, haben weltweit große Besorgnis über Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und mögliche Völkerstraftaten der israelischen Streitkräfte, einschließlich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord, ausgelöst.
Unser Q & A zum andauernden Krieg in Gaza dient zur Versachlichung einer Debatte, die nicht nur die deutsche Öffentlichkeit aufwühlt und polarisiert. Das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte haben eine grundsätzliche Gültigkeit. Und zwar auch dort, wo es beteiligten Akteuren aus historischen oder politischen Gründen offenkundig schwer fällt, regelbasiert zu handeln. Jede Relativierung von Menschenrechtsverletzungen oder unfaire Doppelstandards bei Kriegsverbrechen schwächen das Recht und stärken die Willkür. Völkerstraftaten müssen ermittelt, angeklagt und die Verantwortlichen entsprechend zur Rechenschaft gezogen werden.
Die Angriffe der Hamas und anderer bewaffneter palästinensischer Gruppen auf unschuldige Zivilist*innen - darunter Kinder, Frauen und Alte – in Israel am 7. Oktober 2023 sind ohne jeden Zweifel als eklatante Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte zu bewerten. Die systematische Tötung von Zivilist*innen, Folter, sexualisierte Gewalt, Entführungen und Geiselnahmen stellen Völkerstraftaten wie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.
Die militärische Reaktion Israels auf diese Angriffe ist seitdem derart todbringend für die palästinensische Bevölkerung – und trifft im Besonderen auch Kinder, Frauen und ganze Großfamilien – dass Fragen nach der Verhältnismäßigkeit des israelischen Handelns nicht nur erlaubt, sondern humanitär wie völkerrechtlich dringend geboten sind.
Fragen und Antworten zum aktuellen Krieg in Gaza
Groß angelegte Angriffe auf medizinische Einrichtungen haben im Gazastreifen den Krankenhaus-Betrieb weitgehend zum Erliegen gebracht. Die medizinische Versorgung musste größtenteils eingestellt werden oder kann nur unter schwersten Bedingungen fortgeführt werden. Die weitreichenden Angriffe auf medizinische Infrastruktur, medizinisches Personal und Krankenwagen haben weltweit große Besorgnis über Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und mögliche Völkerstraftaten ausgelöst. Krankenhäuser, medizinisches Personal und Krankenwagen, die ausschließlich medizinische Aufgaben wahrnehmen, müssen unter allen Umständen geschützt und dürfen nicht angegriffen werden. Der vorsätzliche Angriff auf medizinisches Personal, medizinische Einheiten und Krankenwagen unter Verwendung eines Erkennungszeichens, wie etwa das rote Kreuz, kann ein Kriegsverbrechen gemäß Artikel 8 des Römischen Statuts darstellen.
Das medizinische Personal und die medizinischen Einheiten müssen in der Lage sein, ihre Aufgaben wahrzunehmen. Die an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien dürfen das medizinische Personal nicht an der Gesundheitsversorgung hindern und der Zugang zu medizinischen Einrichtungen darf nicht eingeschränkt werden.
Medizinisches Personal, Einheiten und Fahrzeuge können ihren Schutz nur verlieren, "wenn sie außerhalb ihrer humanitären Funktion Handlungen begehen, die dem Feind schaden". Die Anwesenheit eines kranken oder verletzten Angehörigen der gegnerischen Streitkräfte in einem Krankenhaus führt nicht zum Verlust des Schutzstatus nach dem humanitären Völkerrecht. Dies gilt auch für das Vorhandensein von Handfeuerwaffen, die diesen Kämpfer*innen gehören. Daher verlieren medizinische Einheiten, die gesunden Kombattant*innen Zuflucht gewähren oder Waffen und Munition aufbewahren, ihren Schutz erst dann, "wenn eine ordnungsgemäße Warnung mit einer angemessenen Frist erfolgt ist und diese Warnung nicht beachtet wurde". Auch die Anwesenheit bewaffneter Wachen außerhalb der medizinischen Einrichtung, deren einziger Zweck es ist, die Einrichtung, ihr Personal und die von ihnen betreuten Verletzten zu verteidigen, führt nicht zu einem Verlust des Schutzes.
Die Beschlüsse des IGH sind für die Parteien verbindlich und müssen von ihnen befolgt werden. Aus verfahrenstechnischen Gründen gelten die Maßnahmen des IGH nur für Mitgliedsstaaten und Unterzeichner der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes. da die Empfänger einstweiliger Maßnahmen nur Verfahrensbeteiligte sein können, d. h. die Parteien des jeweiligen Rechtsstreits, die auch an das spätere Urteil gebunden sind. Das Gericht kann keine Maßnahmen gegen Dritte erlassen
Insoweit sind weder die Hamas noch andere palästinensischen Gruppen in Gaza die Adressaten der Maßnahmen des IGH. Nichtsdestotrotz müssen sie sich ebenso an das Völkerrecht halten und dürfen keinerlei Maßnahmen verfolgen, die einen Völkermord intendieren können. Sie können aus formalen Gründen nicht vor dem IGH, sondern, gleichwohl vor dem IStGH zur Rechenschaft gezogen werden.
Eine Besonderheit gilt es im Hinblick auf das mögliche Verbrechen des Völkermordes hervorzuheben: Alle Mitgliedstaaten und Unterzeichner der Konvention sind verpflichtet, alle Handlungen zu unterlassen, die einen Völkermord erleichtern oder unterstützen könnten. Dies gilt nicht nur für eine direkte Teilnahme an Feindseligkeiten, sondern auch für Waffenlieferungen, Technologietransfer und andere als Unterstützung zu wertende Maßnahmen.
Südafrika hat am 29. Dezember 2023 beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag einen Antrag auf Erlass vorläufiger Maßnahmen wegen mutmaßlicher Verstöße Israels gegen die Völkermordkonvention eingereicht. Mit der Anrufung des IGH macht Südafrika geltend, dass Israel nach der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (1949) rechtlich verpflichtet ist, Völkermord zu verhindern. Die von Südafrika vorgebrachten Argumente stützen sich auf die konkrete Gefahr, dass Israel durch seine Militäroperation in Gaza seit dem 7. Oktober 2023 einen Völkermord begeht.
Südafrika ist in diesem Fall zwar nicht direkt betroffen. Allerdings sind alle Vertragsstaaten der Konvention als deren "Hüter" dazu berechtigt, im Interesse der Rechtssicherheit den IGH anzurufen, wenn sie Anhaltspunkte dafür sehen, dass ein anderer Staat die Konvention verletzt.
Am 11. und 12. Januar 2024 fand eine Anhörung im Eilverfahren zur Entscheidung über die vorläufigen Maßnahmen statt, bei der die Vertreter*innen Südafrikas und Israels umfangreiche Argumente für bzw. gegen den Vorwurf des Völkermordes vorbrachten.
Die Entscheidung über die einstweiligen Maßnahmen wurde am 26. Januar 2024 erlassen. Darin hat der IGH angeordnet, dass Israel Sofortmaßnahmen ergreifen muss, um einen Völkermord an den Palästinenser*innen in Gaza zu verhindern. Ferner wird Israel angehalten, Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die militärischen Handlungen nicht gegen Art. II der Völkermord-Konvention verstoßen. Auch wird Israel dazu aufgefordert, die Versorgungslage in Gaza zu verbessern. In einer weiteren Anordnung gibt das Gericht dem Staat Israel auf, öffentliche Aufforderungen und Anstachelungen zum Genozid an den Palästinensern zu verhindern und ggf. zu bestrafen.
Die zu erbringenden Schutzmaßnahmen muss Israel innerhalb eines Monats in einem Bericht dokumentieren. Die Anordnung erging mit großer Mehrheit der Richterstimmen von 15 zu 2 bzw. 16 zu 1. Auch der deutsche Richter Georg Nolte stimmte dafür. Damit hält es der IGH für plausibel, dass im Rahmen von Israels Militäroperation einige oder mehrere der in Art. II der Konvention genannten genozidalen Handlungen stattfinden.
Hauptstreitpunkt von Völkermord-Verfahren ist in der Regel – und so auch hier – die Frage der genozidalen Absicht. Zwar genügt nach der Konvention auch ein teilweises Auslöschen der Volksgruppe. Art. II Buchst. a erfasst theoretisch bereits die Tötung einer einzigen Person. Erforderlich ist aber die Intention, eine Volksgruppe "als solche" zu zerstören. Dieser Nachweis ist schwer zu führen – laut IGH hat Südafrika hierzu aber plausible Anhaltspunkte vorgetragen.
Die Entscheidung in der Sache wird jedoch sehr viel länger dauern, voraussichtlich Jahre, und sie wird sich auf einen höheren Beweisstandard stützen, als dies bei vorläufigen Maßnahmen der Fall ist.
Deutschland ist der einzige Staat, der formal seine Absicht bekundet hat, sich gegen die von Südafrika erhobene Völkermordklage auf Seiten Israels zu wehren. Dieser Schritt wurde international weitgehend kritisiert, insbesondere im Zusammenhang mit einem ähnlichen Vorgehen der deutschen Bundesregierung in der Vergangenheit, wie z.B. bei der Anerkennung Palästinas als Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofes oder der deutschen Haltung zum Gutachten des Internationalen Gerichtshofes bezüglich der Völkerrechtswidrigkeit des israelischen Grenzzauns im Westjordanland. In beiden Fällen vielen die endgültigen Entscheidungen der genannten Rechtsorgane entgegen der deutschen Position aus.
Die von der Hamas und anderen bewaffneten palästinensischen Gruppen am 7. Oktober 2023 im Süden Israels verübten Angriffe und die israelischen Militäroperationen im Gazastreifen unterliegen dem humanitären Völkerrecht und internationalen Menschenrechtsgarantien. Insbesondere müssen die Militäroperationen den völkerrechtlichen Normen entsprechen, die im Rahmen von bewaffneten Konflikten (ius in bello) gelten und in humanitär-völkerrechtlichen Verträgen sowie dem internationalen Gewohnheitsrecht festgelegt sind. Dazu gehören die Regeln des Haager Abkommens (IV) von 1907, die vier Genfer Konventionen von 1949 und ihre beiden Zusatzprotokolle von 1977. Diese Regelungen definieren die zulässigen Methoden und Mittel der Kriegsführung und den grundlegenden Schutz von Zivilist*innen sowie von Kombattant*innen, die nicht mehr an den Feindseligkeiten teilnehmen. Die meisten dieser Regeln haben den Status des Völkergewohnheitsrechts erlangt, was bedeutet, dass sie auch von Staaten und nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen, die sie nicht ratifiziert haben, befolgt werden müssen. Obwohl Israel keine Vertragspartei des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Konventionen von 1977 ist, hat der Oberste Gerichtshof Israels deren wichtigste Bestimmungen ausdrücklich als Völkergewohnheitsrecht anerkannt. An einem bewaffneten Konflikt beteiligte organisierte bewaffnete Gruppen sind an das Völkergewohnheitsrecht gebunden und müssen die in bewaffneten Konflikten geltenden Grundsätze einhalten. Die Regeln des humanitären Völkerrechts beruhen nicht auf Gegenseitigkeit, d. h. eine Konfliktpartei kann sich nicht auf Verstöße der anderen Partei berufen, um eigene Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht zu rechtfertigen.
Das humanitäre Völkerrecht gilt für "internationale bewaffnete Konflikte" (IBK) und "nicht-internationale bewaffnete Konflikte" (NIBK). Die Einstufung eines Konflikts als internationaler oder nicht-internationaler bewaffneter Konflikt ist häufig Gegenstand von Debatten. In Anbetracht der aktuellen Umstände wurden die derzeitigen Kampfhandlungen im Gazastreifen mehrheitlich als ein IBK klassifiziert. Auch wenn zwischen einigen Staaten und Expert*innen darüber weiterhin Uneinigkeit besteht, ist diese Einstufung eine weitgehend theoretische Frage, da der Großteil der Regeln des humanitären Völkerrechts aufgrund ihres gewohnheitsrechtlichen Status auf beide Situationen anwendbar ist. Zumindest die im gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Abkommen festgelegten Mindeststandards gelten in allen bewaffneten Konflikten.
Die gegenwärtigen Kriegshandlungenfinden auf palästinensischem Gebiet statt, das seit 1967 von Israel besetzt wird. Dazu gehört neben dem Gazastreifen auch das Westjordanland, einschließlich Ost-Jerusalem. Als Besatzungsmacht hat Israel zusätzliche rechtliche Verpflichtungen gegenüber der palästinensischen Bevölkerung. Diese ergeben sich aus den Regeln des Besatzungsrechts, wie sie in der Haager Konvention (IV) von 1907 und der Vierten Genfer Konvention von 1949 niedergelegt sind. Israel selbst betrachtet sich nach seinem Rückzug aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 nicht mehr als Besatzungsmacht im Gazastreifen. Dennoch ist die Mehrheit der Staaten, internationalen Organisationen und Wissenschaftler*innen der Ansicht, dass Israel aufgrund seiner anhaltenden Kontrolle über Landgrenzen, Luftraum, Hoheitsgewässer, zivile Infrastruktur einschließlich Wasser und Strom, und das palästinensische Bevölkerungsregister weiterhin als Besatzungsmacht anzusehen ist. Zu den wichtigsten Akteuren, die diese Position unterstützen, gehören die Generalversammlung der Vereinten Nationen, der Internationale Strafgerichtshof, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, die Europäische Union, die Afrikanische Union und Staaten wie Deutschland und die Vereinigten Staaten.
Auch gelten die internationalen Menschenrechtsgarantien weiter fort. Selbst in bewaffneten Konflikten bleiben die Staaten, ergänzend zu den Regeln des humanitären Völkerrechts, verpflichtet, die Menschenrechte aller ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Menschen zu achten, zu schützen und zu verwirklichen. Und zwar auch in Gebieten, die sich außerhalb ihrer Grenzen, aber unter ihrer tatsächlichen Kontrolle befinden, wie z. B. besetzte Gebiete.
Die Zahl der seit dem 7. Oktober im Gazastreifen getöteten Journalist*innen und Medienmitarbeiter*innen ist in der jüngeren Geschichte beispiellos. Dies gibt Anlass zu ernster Besorgnis über Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht sowie der Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Journalist*innen gelten als Zivilpersonen und müssen bei ihrer beruflichen Tätigkeit in bewaffneten Konflikten respektiert und geschützt werden. Wie andere Zivilpersonen dürfen sie nicht Ziel eines Angriffs werden. Sie können ihren Schutz vor direkten Angriffen nur dann verlieren, wenn und solange sie direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen.
Vorsätzliche Angriffe auf Zivilpersonen, einschließlich Journalist*innen, stellen ein Kriegsverbrechen gemäß Artikel 8(b)(i) und Artikel 8(e)(i) des Römischen Statuts dar und können, als Teil eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung, auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden. In gleicher Weise stellen Medieneinrichtungen, einschließlich Radio- und Fernsehstationen sowie journalistische Ausrüstung zivile Objekte dar, solange sie nicht für militärische Zwecke genutzt werden. Wie alle zivilen Objekte dürfen sie nicht direktes Ziel eines Angriffes werden. Vorsätzliche Angriffe auf zivile Objekte stellen nach Artikel 8(b)(ii) des Römischen Statuts ein Kriegsverbrechen dar.
Vorwarnungen gehören zu den Vorkehrungen, die die Kriegsparteien treffen müssen, um die Zivilbevölkerung vor militärischen Angriffen zu schützen. Diese Vorschrift ist Teil des humanitären Völkerrechts und auch im Zusatzprotokoll I der Genfer Konventionen enthalten. Im Zusatzprotokoll I ist ferner festgelegt, dass die Vorwarnungen wirksam sein müssen, d.h. sie müssen der Zivilbevölkerung die Möglichkeit geben, sich vor den bevorstehenden Angriffen zu schützen. Warnungen, die der Zivilbevölkerung nicht genügend Zeit geben, ein bestimmtes Gebiet zu verlassen und Schutz zu suchen, gelten daher als unwirksam. Warnungen, die nicht wirksam sind, sondern die Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken versetzen, verstoßen zudem gegen das Verbot von "Gewalttätigkeiten oder Gewaltandrohungen, deren Hauptzweck darin besteht, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten" (Zusatzprotokoll I, Art. 51(2)).
Zivilpersonen sind möglicherweise nicht in der Lage, ein Gebiet nach einer Vorwarnung zu verlassen, sei es aufgrund ihres Alters, einer Behinderung, des Mangels an sicheren Fluchtwegen oder Zufluchtsorten, oder auch, weil sie sich weigern zu fliehen. Unabhängig davon, ob sie einer Evakuierungsanweisung Folge leisten, genießen sie weiterhin den Schutz, den das humanitäre Völkerrecht ihnen gewährt. Die Annahme des zivilen Status gemäß dem Zusatzprotokoll I, Art. 50, wird weiterhin aufrechterhalten. Außerdem muss eine angreifende Partei, die eine Vorwarnung gegeben hat, bei militärischen Angriffen nach wie vor das Unterscheidungsgebot beachten und andere Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.
In der Praxis bedeutet dies, dass Zivilpersonen im Gazastreifen, die eine Vorwarnung der israelischen Streitkräfte erhalten haben und sich in bereits angegriffenen oder kurz vor einem Angriff stehenden Gebieten aufhalten, weiterhin als Zivilpersonen anzusehen sind und daher nicht angegriffen werden dürfen. Gebiete im Gazastreifen, die in Gänze eine Vorwarnung erhalten haben, werden nicht automatisch zu legitimen militärischen Zielen und alle Anforderungen des humanitären Völkerrechts müssen weiterhin beachtet werden.
Die von Israel angeordnete Massenevakuierung von mehr als zwei Dritteln des Gebiets und die anschließende Zwangsumsiedlung von mehr als 85 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens zwangen mehr als 1,9 Millionen Menschen in einen immer kleiner werdenden Raum, der „kein sicherer Ort für Zivilisten“ ist. Die UNO bezeichnete die Bedingungen, die Israel sowohl vor als auch während seiner Angriffe und der Abriegelung des Gazastreifens geschaffen hat, als humanitäre Katastrophe, die den Zusammenbruch der gesellschaftlichen Strukturen signalisiert.
Das Unterscheidungsgebot ist ein Eckpfeiler des humanitären Völkerrechts und Teil des Gewohnheitsrechts. Es verpflichtet die an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien, jederzeit zwischen der Zivilbevölkerung und Kombattant*innen sowie zwischen zivilen Objekten und militärischen Zielen zu unterscheiden. Dies ist von grundlegender Bedeutung, da Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur vor den Auswirkungen der Feindseligkeiten geschützt werden sollen. Laut humanitärem Völkerrecht sind direkte Angriffe nur gegen militärische Ziele zulässig, d. h. gegen solche „Objekte, die aufgrund ihrer Beschaffenheit, ihres Standortes, ihrer Zweckbestimmung oder ihrer Verwendung wirksam zu militärischen Handlungen beitragen und deren gänzliche oder teilweise Zerstörung, deren Inbesitznahme oder Neutralisierung unter den in dem betreffenden Zeitpunkt gegebenen Umständen einen eindeutigen militärischen Vorteil darstellt“. Zu den militärischen Zielen gehören auch Kombattant*innen, die als alle Mitglieder der Streitkräfte einer Konfliktpartei, mit Ausnahme von medizinischem und religiösem Personal, definiert werden. Zivilpersonen sind in bewaffneten Konflikten immer geschützt, solange sie nicht direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen.
Wahllose Angriffe, d. h. Angriffe, die unterschiedslos militärische Ziele und Zivilpersonen oder zivile Objekte treffen, sind ein schwerer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht und können Kriegsverbrechen gemäß Artikel 8 des Römischen Statuts darstellen. Dies ist ebenso der Fall, wenn sich vorsätzliche Angriffe gegen (1) die Zivilbevölkerung oder einzelne Zivilpersonen und (2) zivile Infrastruktur und ziviles Eigentum richten.
Als eines der wichtigsten Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts (HVR) und zugleich Teil des Völkergewohnheitsrechts beschränkt die „militärische Notwendigkeit“ (military necessity) die zulässige Anwendung von Gewalt auf das Ausmaß, das erforderlich ist, um einen legitimen militärischen Zweck zu erreichen: "Der einzige legitime militärische Zweck ist die Schwächung der militärischen Kapazitäten der anderen Konfliktparteien". Das HVR versucht, ein Gleichgewicht zwischen militärischer Notwendigkeit und humanitären Erfordernissen herzustellen. Bestimmte Regelungen des humanitären Völkerrechts, wie das Verbot Waffen einzusetzen, die "überflüssige Verletzungen oder unnötige Leiden" verursachen, beruhen auf dem Verständnis, dass solche Waffen nicht dem Grundsatz der militärischen Notwendigkeit entsprechen.
Das Vorsorgeprinzip verlangt, dass die Konfliktparteien alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um die Zivilbevölkerung und zivile Objekte vor den Auswirkungen der Angriffe zu schützen. Demnach muss die Anwesenheit von Zivilpersonen und zivilen Objekten berücksichtigt werden. Der Schaden, der der Zivilbevölkerung durch Angriffe zugefügt werden kann, soll verhindert oder auf ein Minimum reduziert werden. Das Vorsorgeprinzip verlangt, bei Zweifeln am militärischen Charakter eines Ziels davon auszugehen, dass es sich um ein ziviles Ziel handelt. Werden vorsorgliche Warnungen an die Zivilbevölkerung nicht beachtet, verlieren Zivilpersonen dadurch nicht ihren völkerrechtlichen Schutzstatus.
Das Humanitäre Völkerrecht verbietet eindeutig Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Objekte, räumt zugleich jedoch die Möglichkeit ein, dass ein Angriff auf ein militärisches Objekt zu Verletzungen oder zum Tod von Zivilpersonen oder zivilen Objekten führen kann (sogenannte "Kollateralschäden"). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bedeutet allerdings, dass nicht jeder "Kollateralschaden" rechtmäßig ist. Es verstößt gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn ein Angriff in dem Wissen durchgeführt wird, dass er im Vergleich zu dem erwarteten unmittelbaren militärischen Gesamtnutzen wahrscheinlich zu einem übermäßigen Verlust an Menschenleben und einer übermäßigen Verletzung von Zivilpersonen oder anderen zivilen Objekten führen wird. Dies ist ein schwerer Verstoß gegen humanitäres Völkerrecht, der nach Artikel 8 des Römischen Statuts ein Kriegsverbrechen darstellen kann. Ist die Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit einem Staat zuzuschreiben, kann sie auch zu einer staatlichen Verantwortung führen.
Die von Israel seit mehr als 17 Jahren verhängte Abriegelung des Gazastreifens wurde von der UN-Fact Finding Mission als kollektive Bestrafung der palästinensischen Bevölkerung eingestuft. Die Mission kam außerdem zu dem Schluss, dass die strengen Beschränkungen des Warenverkehrs gegen die Verpflichtung Israels als Besatzungsmacht verstoßen. Als Besatzungsmacht müsse Israel, "den freien Durchgang aller Sendungen von medizinischen und Krankenhausgegenständen, Nahrungsmitteln und Kleidung ermöglichen, die zur Deckung der dringenden humanitären Bedürfnisse der Zivilbevölkerung benötigt werden" (Art. 23 GC IV). Die jahrelange Abriegelung des Gazastreifens kann den Tatbestand der Verfolgung als Verbrechen der Menschlichkeit gemäß Artikel 7(i)(h) des Römischen Statuts erfüllen.
Angesichts der schwerwiegenden humanitären Auswirkungen der Abriegelung des Gazastreifens auf die palästinensische Bevölkerung, gibt die Verweigerung humanitärer Hilfe und der mutmaßlich gezielte Einsatz von Hunger Anlass zur Sorge, dass hierdurch Kriegsverbrechen begangen wurden.
Während Belagerungen und Blockaden im humanitären Völkerrecht nicht definiert sind, werden beide als operative Strategien in der Kriegsführung verstanden. Der Begriff der Belagerung beschreibt die Einkreisung und Isolierung eines Ortes oder eines Gebietes zum Zwecke des Angriffs. Eine Belagerung wird als rechtmäßig angesehen, wenn sie ausschließlich einem militärischen Ziel dient und sich ausschließlich gegen Kombattant*innen richtet. Das humanitäre Völkerrecht sieht jedoch Einschränkungen für den Belagerungszustand vor, wie etwa das gewohnheitsrechtliche Verbot des Aushungerns der Zivilbevölkerung. Darüber hinaus genießt die Zivilbevölkerung in einem belagerten Gebiet nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Schutz "vor übermäßigem Schaden". Die Verhältnismäßigkeit des Schadens, der einer Zivilbevölkerung zugefügt wird, muss sowohl vor dem Beschluss ein Gebiet zu belagern, als auch während der Belagerung einer stetigen Überprüfung unterliegen.
Kollektive Bestrafungen umfassen Sanktionen, Schikanen, Verwaltungs- und Strafmaßnahmen als Vergeltung für Feindseligkeiten. Sie richten sich gegen einzelne oder mehrere Personen einer Gruppe, die selbst keine individuelle Verantwortung für die begangenen feindseligen Handlungen tragen. Kollektivstrafen können unterschiedliche Maßnahmen erfassen, die als Bestrafung und Entziehung humanitär-völkerrechtlich verbriefter Rechte anzusehen sind, wie beispielsweise den Anspruch der Zivilbevölkerung auf humanitäre Hilfe, inklusive Nahrung, das Recht auf medizinische Versorgung und Obdach und dem Schutz vor Witterungseinflüssen. Die kollektive Bestrafung von Kriegsgefangenen und anderen geschützten Gruppen, wie Zivilpersonen, ist nach humanitärem Völkerrecht ausnahmslos verboten.
Menschenrechtsexpert*innen bewerten die systematische Zerstörung von öffentlichen Gebäuden wie privaten Häusern und landwirtschaftliche Flächen in Gaza, sofern diese kein ausdrückliches militärisches Ziel darstellen (etwa kommunale Einrichtungen, Bibliotheken oder Universitäten) als völkerrechtswidrige Kollektivbestrafung der Zivilbevölkerung. Im Jahr 2009 stellte die UN-Untersuchungskommission zum Gaza-Konflikt fest, dass die von Israel seit 2007 verhängte Abriegelung des Gazastreifens (siehe Frage 10) gegen das Verbot der kollektiven Bestrafung des humanitären Völkerrechts verstößt.
In Bezug auf die aktuelle Situation werden wahllose militärische Angriffe, die Einstellung der UNRWA-Finanzierung, die Blockade der humanitären Hilfe sowie Hunger als Kriegswaffe diskutiert, die möglicherweise auf eine kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung hinauslaufen.
Eine Kollektivstrafe gegen eine geschützte Gruppe zu verhängen ist ein Kriegsverbrechen und kann, als Teil eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung, auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeordnet werden.
Der Gazastreifen ist eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt. Gerade in solchen Gebieten müssen die Regeln des humanitären Völkerrechts in Bezug auf Unterscheidung, Vorsichtsmaßnahmen und Verhältnismäßigkeit jederzeit eingehalten werden. Dementsprechend müssen die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden und Mittel so gewählt werden, dass sie auf ein bestimmtes militärisches Ziel gerichtet bleiben und geeignet sind, zwischen Zivilpersonen sowie zivilen Objekten und militärischen Zielen zu unterscheiden.
Das humanitäre Völkerrecht schreibt vor, dass Konfliktparteien bei militärischen Operationen "alle durchführbaren Vorkehrungen" treffen müssen, um den Verlust zivilen Lebens und die Beschädigung ziviler Objekte zu verhindern oder auf ein Minimum zu reduzieren (siehe Frage 2). Zu diesen Vorsichtsmaßnahmen gehört die sorgfältige Überprüfung, ob es sich bei den Angriffszielen um militärische Ziele oder zivile Objekte handelt. Darüber hinaus sollte eine wirksame Vorwarnung vor Angriffen erfolgen, wenn die Umstände dies zulassen. Von einem Angriff ist Abstand zu nehmen, wenn dieser gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt. In besiedelten Gebieten mit ober- und unterirdischen Strukturen müssen die Konfliktparteien die gesteigerte Herausforderung der Identifizierung von Zivilpersonen berücksichtigen und sicherstellen, dass es nicht zu unterschiedsloser Gewalt kommt.
Streitkräfte, die in bewohnten Gebieten stationiert sind, müssen so weit wie möglich vermeiden, militärische Ziele, einschließlich Kämpfer*innen, Munition, Waffen, Ausrüstung und militärische Infrastruktur, in der Nähe von dicht besiedelten Gebieten zu platzieren. Es müssen auch Anstrengungen unternommen werden, um die Zivilbevölkerung aus militärischen Zielen zu evakuieren. Gleichzeitig ist eine angreifende Konfliktpartei nicht von ihrer Verpflichtung entbunden, das aus dem Angriff resultierende Risiko für die Zivilbevölkerung zu minimieren. Das gilt auch, wenn sie der anderen Partei die Verantwortung dafür zuschreibt, dass sich militärische Ziele in dicht besiedelten Gebieten befinden.
Die mutmaßliche Anwesenheit von Hamas-Kämpfern in einem Wohngebäude oder -gebiet oder die Tatsache, dass sich eine militärisch relevante Einrichtung in einem dicht besiedelten Gebiet befindet, rechtfertigt also keinen Angriff auf dieses Gebiet, ohne entsprechend auf die dort anwesende Zivilbevölkerung Rücksicht zu nehmen. Dazu gehört selbstverständlich auch die Pflicht, zwischen Kombattant*innen und Zivilpersonen zu unterscheiden und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einzuhalten (siehe Frage 2).
Der Einsatz von Explosivwaffen mit großflächiger Wirkung - d.h. Waffen, die einen großen Zerstörungsradius haben, von Natur aus ungenau sind oder mehrere Munitionen gleichzeitig abfeuern - stellt in bewohnten Gebieten eine der größten Bedrohungen für die Zivilbevölkerung dar und kann einen Verstoß gegen das Verbot willkürlicher Angriffe darstellen. Das Ausmaß der Schäden, die die Zivilbevölkerung im Gazastreifen erleidet, "ist charakteristisch für den Einsatz von Sprengwaffen mit großflächiger Wirkung in einem so dicht besiedelten Gebiet“".
Es ist klar, dass der fortwährende Raketenbeschuss der Hamas und anderer palästinensischer Gruppen auf israelische Städte und Ortschaften, selbst wenn er in vielen Fällen abgewehrt werden kann, sowohl in seiner Intention wie in seiner Wirkung gegen sämtliche Regeln des humanitären Völkerrechts verstößt.
Der Begriff der "menschlichen Schutzschilde" bezieht sich auf Zivilpersonen oder andere nach dem humanitären Völkerrecht geschützte Personen, die gezwungen werden, sich an militärischen Zielen aufzuhalten, um diese Orte vor militärischen Operationen zu „schützen“.
Das Verbot derartige menschliche Schutzschilde einzusetzen ist eine Norm des humanitären Völkerrechts und wurde in die Genfer Konventionen und das Zusatzprotokoll I aufgenommen. Es gilt sowohl in internationalen als auch in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten. In internationalen bewaffneten Konflikten stellt die Verletzung dieses Verbots ein Kriegsverbrechen gemäß Artikel 8(2)(xxiii) des Römischen Statuts dar. In nicht-internationalen bewaffneten Konflikten kann es sich um ein Kriegsverbrechen nach Artikel 8(e)(i) des Römischen Statuts handeln.
Die israelische Armee begründet ihre militärische Vorgehensweise ausdrücklich damit, dass sich Hamas-Einheiten bewusst in zivilen Gebäuden verschanzt und gezielt die Bevölkerung als menschliche Schutzschilde missbraucht. Im Gaza-Krieg 2009 ermittelte die UN-Untersuchungskommission mehrere Vorfälle, bei denen israelische Streitkräfte palästinensische Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutzten. Obwohl die israelischen Streitkräfte wiederholt öffentlich versichert haben, dass diese Praxis eingestellt worden sei, wurde der Einsatz von Palästinensern als menschliche Schutzschilde durch die IDF insbesondere im Gazastreifen und im Westjordanland dokumentiert.
Seit dem 7. Oktober sind mehr als 390 Bildungseinrichtungen im Gazastreifen zerstört worden. 9 der 10 Schulen im Gazastreifen haben zumindest "erhebliche Schäden" erlitten. Historische, religiöse und archäologische Stätten wie der Anthedon-Hafen und die Ibn Othman Moschee wurden beschädigt oder dem Erdboden gleichgemacht. Solche Gebäude, die der Religion, der Kunst, der Wissenschaft, der Bildung oder karitativen Zwecken gewidmet sind, sowie historische Denkmäler fallen unter den Kulturgüterschutz des Humanitären Völkerrechts. Parteien eines bewaffneten Konflikts sind verpflichtet, Kulturgüter, die nicht für militärische Zwecke genutzt werden, mit besonderer Sorgfalt zu behandeln, um Schäden zu vermeiden.
Auch Bildungseinrichtungen, Gotteshäuser und andere Kulturgüter sind als zivile Objekte anzusehen, solange sie nicht für militärische Zwecke genutzt werden. Dementsprechend genießen diese Einrichtungen Schutz vor direkten Angriffen. Darüber hinaus darf ein ziviles Objekt wie ein Wohngebäude, eine Universität oder eine religiöse Stätte nicht allein aufgrund einer früheren Nutzung zu Kampfzwecken dauerhaft als militärisches Ziel eingestuft werden. Vielmehr verlieren diese Einrichtungen nur solange ihren Schutzstatus, wie sie zu militärischen Zwecken genutzt werden. Nach dem Römischen Statut können absichtliche Angriffe auf zivile Objekte Kriegsverbrechen in einem internationalen bewaffneten Konflikt darstellen. Dazu gehört auch der vorsätzliche Angriff auf Kulturgüter (Artikel 8(b)(ix) und Artikel 8(e)(iv) Römisches Statut).
Neben dem Internationalen Strafgerichtshof können auch Staaten juristisch gegen Personen wegen der Begehung von Völkerstraftaten (Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Genozid) vorgehen. Dies ist nach dem Weltrechtsprinzip möglich, wonach ein Staat Völkerstraftaten auch dann strafrechtlich verfolgen kann, wenn die Taten nicht auf seinem Hoheitsgebiet begangen wurden und weder Opfer noch Täter Staatsangehörige dieses Staates sind. Länder wie Argentinien, Österreich, Frankreich, Deutschland, Schweden und die Niederlande verfügen über Rechtsvorschriften, die sie in die Lage versetzen, den Grundsatz des Weltrechtsprinzips anzuwenden. Sie könnten somit Ermittlungen einleiten und schließlich Personen, die für Völkerstraftaten in Israel/Palästina verantwortlich sind, vor nationalen Gerichten zur Rechenschaft ziehen.
In Deutschland definiert das 2002 in Kraft getretene Völkerstrafgesetzbuch den Rechtsrahmen für solche Konstellationen. Auf dessen Grundlage reichten 2014 das ECCHR und das Palästinensische Zentrum für Menschenrechte (PCHR) in Deutschland eine Strafanzeige im Namen eines deutsch-palästinensischen Staatsbürgers ein, dessen Familie bei einem Bombardement durch die israelischen Streitkräfte in Gaza-Stadt im Jahr 2014 während der sogenannten Militäroperation "Protective Edge" getötet wurde. Im August 2021 beschloss die deutsche Bundesanwaltschaft, keine Ermittlungen einzuleiten.
Angesichts des Todes deutscher Staatsangehöriger im aktuellen Gaza-Krieg hat das ECCHR bei der Bundesanwaltschaft Strafermittlungen zur mutmaßlichen Tötung der deutsch-palästinensischen Familie Abdujadallah während eines israelischen Angriffs in Gaza gefordert. Das Ermittlungsgesuch unterstützt die Strafermittlungen der örtlichen Staatsanwaltschaft, nimmt jedoch kritisch Stellung zu der Aussage der Bundesanwaltschaft, dass es keine Anhaltspunkte für Verstöße gegen das Völkerstrafgesetzbuch gibt. Das ECCHR hat die Bundesanwaltschaft deshalb aufgefordert, Strukturermittlungsverfahren sowie gegebenenfalls personenbezogene Ermittlungsverfahren nach Straftaten des deutschen Völkerstrafgesetzbuches zu den Ereignissen vom und ab dem 7. Oktober 2023 zu führen.
Zu den Verpflichtungen, die das humanitäre Völkerrecht denjenigen auferlegt, die nicht an einem bestimmten Konflikt beteiligt sind, gehören (1) die Verantwortung, die Genfer Konventionen zu achten und ihre Einhaltung zu gewährleisten; (2) die allgemeine Pflicht, Verstöße gegen die Konventionen zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen, und (3) die Pflicht, Personen zu untersuchen, zu suchen und strafrechtlich zu verfolgen, die schwere Verstöße gegen die Konventionen begangen oder angeordnet haben.
Alle Vertragsstaaten der Genfer Konventionen sind dazu verpflichtet, sie „unter allen Umständen“ zu achten und für ihre Einhaltung zu sorgen (Zusatzprotokoll I, Artikel 1 Absatz 1; IGH, 2004, Para. 159). Diese Verpflichtung wird allgemein so verstanden, dass die Staaten sowohl Verstöße unterlassen als auch Maßnahmen ergreifen müssen, um die Einhaltung der Regeln des humanitären Völkerrechts zu gewährleisten. Dementsprechend dürfen Drittstaaten eine Verletzung der Übereinkommen weder fördern noch unterstützen. Darüber hinaus sind sie verpflichtet, alle angemessenen Maßnahmen zu ergreifen, um Verstöße gegen die Konventionen zu beenden.
Wenn Staaten offensichtlich nicht alles in ihrer Macht Stehende tun, um Verstöße zu beenden, verstoßen sie selbst gegen ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen und können als Staaten in die Verantwortung genommen werden. Die Vierte Genfer Konvention enthält eine allgemeine Verpflichtung, wonach die Staaten "alle erforderlichen Maßnahmen" ergreifen müssen, um Verstöße zu unterbinden (Artikel 146 GC-IV). Darüber hinaus ist jede Vertragspartei verpflichtet, Personen ausfindig zu machen, denen vorgeworfen wird, solche schweren Verstöße begangen oder deren Begehung angeordnet zu haben, und diese Personen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit vor nationalen Gerichten zur Verantwortung zu ziehen (Art. 146(1), (2) GC-IV).
Die ehemalige IStGH-Anklägerin Fatou Bensouda eröffnete am 3. März 2021 eine Untersuchung der Situation in Palästina. Die Situation befindet sich derzeit in der aktiven Ermittlungsphase, und die Anklagebehörde sammelt Beweise, hört Zeug*innen an und analysiert das gesammelte Material mit dem Ziel, konkrete Fälle aufzubauen und Haftbefehle auszustellen. Der IStGH ist für mutmaßliche Verbrechen zuständig, die seit Juni 2014 auf palästinensischem Gebiet und von palästinensischen Bürger*innen begangen wurden. Darunter fallen also auch mögliche Verbrechen, die am 7. Oktober von der Hamas und anderen palästinensischen Gruppen begangen wurden.
Am 29. Oktober 2023 besuchte der derzeitige IStGH-Ankläger Karim Khan auf ägyptischer Seite den Grenzübergang Rafah. Ende November/Anfang Dezember 2023 reiste er erstmals nach Israel und Palästina. Menschenrechtsorganisationen haben den Ankläger seit vielen Jahren aufgefordert, Verbrechen in Palästina im Rahmen der Zuständigkeit des IStGH zu untersuchen und zu ahnden, darunter Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In diesem Zusammenhang wurden dem Chefankläger des IStGH auch mögliche Fälle von Anstiftung zum Völkermord unterbreitet.
Der Gerichtshof wird weiterhin daran arbeiten, Fälle im Kontext der gegenwärtigen Ermittlungen aufzubauen, und entsprechend Haftbefehle erlassen. Einige Staaten haben den Gerichtshof aufgefordert, in der aktuellen Situation zu ermitteln und eine finanzielle Unterstützung der Untersuchungen zugesagt.
Kriegsverbrechen sind schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, die in bewaffneten Konflikten begangen werden.
Mehr AnzeigenDas Völkerrecht ist die Rechtsordnung, die die Beziehung zwischen Staaten bzw. Völkerrechtssubjekten regelt.
Mehr AnzeigenDas Völkerstrafrecht findet bei schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen (z. B. Völkermord oder Kriegsverbrechen) Anwendung.
Mehr AnzeigenKriegsverbrechen sind schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, die in bewaffneten Konflikten begangen werden.
Mehr AnzeigenGezielte Angriffe auf Zivilpersonen; Folter von Gefangenen; sexuelle Sklaverei – wenn diese und weitere Verbrechen in bewaffneten Konflikten begangen werden, handelt es sich laut dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshof um Kriegsverbrechen. Auch wenn die internationale Strafjustiz Möglichkeiten bietet, Kriegsverbrechen zu verfolgen, werden die Verantwortlichen dafür allzu oft nicht belangt.
Mehr AnzeigenVerbrechen gegen die Menschlichkeit – definiert als ein systematischer Angriff auf die Zivilbevölkerung – geschehen nicht einfach. Vielmehr werden sie geplant, angeordnet oder zumindest gebilligt – und zwar häufig von höchster Stelle, von Staats- und Regierungschef*innen persönlich, durch ihre Beamt*innen oder hochrangige Angehörige des Militärs. In manchen Fällen sind auch Unternehmen direkt oder indirekt daran beteiligt.
Mehr AnzeigenGezielte Angriffe auf Zivilpersonen; Folter von Gefangenen; sexuelle Sklaverei – wenn diese und weitere Verbrechen in bewaffneten Konflikten begangen werden, handelt es sich laut dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshof um Kriegsverbrechen. Auch wenn die internationale Strafjustiz Möglichkeiten bietet, Kriegsverbrechen zu verfolgen, werden die Verantwortlichen dafür allzu oft nicht belangt.
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