KOBLENZ/BERLIN - Im sogenannten Al-Khatib-Prozess vor dem Oberlandesgericht Koblenz hat das Gericht heute die Anklage gegen Anwar R. aktualisiert. Fälle von sexualisierter Gewalt in der Al-Khatib-Abteilung werden nun als Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Rahmen eines ausgedehnten und systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung in Syrien verhandelt, nicht – wie zuvor – lediglich als Einzelfälle nach deutschem Strafgesetz.
„Nicht zuletzt der Prozess hat gezeigt: Die syrischen Geheimdienste setzen sexualisierte Gewalt systematisch als Waffe ein, um die Zivilbevölkerung zu unterdrücken. Für uns Syrer, für die vielen Überlebenden und ihre Angehörigen ist es ein wichtiges Zeichen, dass dies nun auch ein deutsches Gericht in diesem ersten Verfahren zu den Verbrechen der syrischen Regierung so behandelt. Dieser Schritt kann die Betroffenen – Frauen wie Männer – stärken und ihnen Hoffnung geben, anerkannt und gesehen zu werden“, sagte Joumana Seif vom ECCHR, syrische Rechtsanwältin und Frauenrechtsaktivistin.
Überlebende von sexualisierter Gewalt in Syrien, insbesondere Frauen, sind nicht nur von den Taten als solche betroffen, sondern werden oft diskriminiert und sogar von ihren Familien verstoßen. Die Regierung von Baschar al-Assad nutzt Verbrechen wie sexuelle Belästigung, erzwungene Nacktheit oder Vergewaltigung, um die Zivilbevölkerung ganz gezielt zu schwächen. Auch syrische Zeugen im Al-Khatib-Prozess berichteten immer wieder von der schweren gesellschaftlichen Stigmatisierung, die mit den Verbrechen einhergeht. Im November 2020 hatten darum Rechtsanwälte der Nebenklage, Sebastian Scharmer und Dr. Patrick Kroker, beantragt, sexualisierte Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit in die Anklage aufzunehmen.
„Mit der heutigen Entscheidung konnte eine eklatante Lücke im Verfahren geschlossen werden. Fälle von sexualisierter Gewalt im Al-Khatib-Gefängnis nur als Gelegenheitstaten anzuerkennen, wäre eine juristische Fehleinschätzung. Jetzt spiegelt die Anklage noch deutlicher das Ausmaß des Unrechts wider, dass in den syrischen Haftanstalten wie der Abteilung 251 herrscht und von dem mutige Zeugen wie unsere Mandanten im Prozess immer wieder berichtet haben“, erklärte Rechtsanwalt Patrick Kroker.
Bereits im Juni 2020 hatte das ECCHR gemeinsam mit den syrischen Organisationen Urnammu und Syrian Women’s Network mit Folterüberlebenden eine Anzeige beim Generalbundesanwalt eingereicht und gefordert, dass die deutsche Justiz sexualisierte Gewalt der syrischen Geheimdienste als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgt.
„Schon zu Beginn des Verfahrens hätte klar sein müssen: Sexualisierte Gewalt in Syrien stellt ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. Es ist wichtig, dass dies in Ermittlungen und zukünftigen Verfahren zur Aufarbeitung der Verbrechen in Syrien von Beginn an verfolgt wird“, forderte Andreas Schüller, Leiter des ECCHR-Programmbereichs Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung.