EGMR verurteilt Bulgariens Pushback-Praxis

Rückschiebung von Journalist in die Türkei rechtswidrig

Bulgarien – Pushbacks – EGMR

Systematische Zurückschiebungen von Geflüchteten und Migrant*innen durch Bulgarien in die Türkei ohne jegliche Überprüfung des individuellen Risikos drohender Menschenrechtsverletzungen verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Das entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Juli 2021.

Trotz vieler Berichte über Folter, Misshandlung und politische Verfolgung im Nachgang zu dem versuchten Staatstreich in der Türkei hatten die bulgarischen Behörden die Situation des Beschwerdeführers D., einem verfolgten Journalisten, ignoriert. Ihm wurde die Möglichkeit vorenthalten, Asyl zu beantragen und rechtlich gegen die Zurückschiebung vorzugehen. Der Gerichtshof erkannte darin Verletzungen von Artikel 3 (Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) und Artikel 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) und sprach dem Beschwerdeführer eine Entschädigung in Höhe von 15.000 Euro Schmerzensgeld zu. Darüber hinaus ist Bulgarien verpflichtet, dem Europarat einen sog. Aktionsplan vorlegen, aus dem hervorgeht, welche Maßnahmen der Staat ergreifen wird, um zukünftige Menschenrechtsverletzungen zu verhindern.

Das ECCHR beteiligt sich an diesem Verfahren und legte im September 2022 zusammen mit dem Center for Legal Aid - Voice in Bulgaria einen Bericht vor, der den konkreten Handlungsbedarf aufzeigt. Der Bericht legt dar, dass sich die Praxis gewaltsamen Pushbacks seit der Verkündung des Urteils weiter verschärft hat und gibt Empfehlungen, um die vollständige Umsetzung des Urteils zu gewährleisten.

Fall

D. hatte in der Türkei für die Tageszeitung Zaman und die Presseagentur Cihan gearbeitet. Die türkische Regierung ordnet diese Medien der Gülen-Bewegung zu, die für den versuchten Putsch im Juli 2016 verantwortlich gemacht und als terroristische Vereinigung (FETÖ) eingestuft wird. In der Folge des versuchten Staatsstreichs wurde D. entlassen. Er verließ im Oktober 2016 das Land und wurde am rumänisch-bulgarischen Grenzübergang in einem Lastwagen entdeckt und festgenommen.

Obwohl D. selbst auf seine Verfolgungssituation in der Türkei hinwies und die bulgarischen Behörden sogar wussten, dass er in der Türkei gesucht wurde, überprüfte niemand das ihm in der Türkei drohende Risiko. Nach weniger als 24 Stunden wurde D. den türkischen Behörden übergeben, die ihn umgehend in Haft nahmen. Später wurde er wegen Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung FETÖ zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt. Dieser Schuldspruch basierte vornehmlich darauf, dass D. die Messenger-App „Bylock“ auf seinem Smartphone installiert hatte, die die türkische Regierung mit terroristischen Tätigkeiten in Verbindung bringt. 

Auch wenn D. bei den bulgarischen Behörden nicht ausdrücklich um Asyl angesucht hatte, stellte der EGMR klar: Es obliegt dem Staat, das Risiko von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Amts wegen zu untersuchen, wenn hierfür Anhaltspunkte vorliegen.

Der Fall des Antragstellers wurde unterstützt vom Center for Legal Aid – Voice in Bulgaria und PRO ASYL.

 

Kontext

Als Türsteher der EU mit seiner Schlüsselposition an der europäischen Außengrenze verfolgt Bulgarien seit langem eine Strategie brutaler Pushbacks und schiebt insbesondere auch türkische Geflüchtete direkt in der Türkei zurück. Hierüber hatten NGOs wiederholt berichtet.

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Europäische Menschenrechtskonvention

Die Europäische Menschenrechtskonvention legt die geltenden Menschen- sowie Freiheitsrechte in Europa fest.

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Pushbacks

Bei den illegalen Zurückweisungen und Zurückschiebungen, den so genannten Pushbacks, an den EU-Außengrenzen werden elementare Menschen- und Flüchtlingsrechte außer Kraft gesetzt. Doch die Betroffenen sind faktisch rechtlos gestellt und haben kaum Möglichkeiten gegen die Gewaltexzesse vorzugehen. Das ECCHR setzt sich seit 2014 mit rechtlichen Interventionen gegen die Abschiebepraktiken in der EU ein.

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