Verbrechen unter Assad angeklagt: Die Hungerblockade von Yarmouk

16.07.2025

Berlin, 16. Juli 2025 - Die Bundesanwaltschaft hat Anklage nach dem Weltrechtsprinzip gegen fünf Männer erhoben, die unter Verdacht stehen in Yarmouk, einem palästinensischen Flüchtlingslager in Damaskus, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen begangen zu haben. Vor dem Oberlandesgericht Koblenz müssen sich im Falle der Zulassung der Anklage die vier mutmaßlichen Mitglieder der syrischen Miliz “Free Palestine Movement” (FPM) und ein mutmaßlicher syrischer Geheimdienstmitarbeiter wegen Tötung, Folter und Freiheitsberaubung verantworten. Darüber hinaus sind Mord und der Einsatz verbotener Methoden der Kriegsführung Teil der Anklage. Die fünf Männer wurden bereits im Juli 2024 wegen des dringenden Verdachts auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit festgenommen und befinden sich seitdem in Untersuchungshaft. Ob es zur Hauptverhandlung kommt, entscheidet das Oberlandesgericht Koblenz in den kommenden Wochen.

Im Zuge der syrischen Revolution kam es ab 2011 in Yarmouk - bekannt als “Hauptstadt der palästinensischen Diaspora” - zu Massenprotesten gegen das Assad-Regime. Die Regierung und ihre verbündeten Milizen, darunter auch die FPM, die das Lager kontrollierten, gingen brutal gegen die Proteste vor. Darunter auch die angeklagten Milizionäre: Laut Bundesanwaltschaft beteiligten sie sich am 13. Juli 2012 an der gewaltsamen Niederschlagung einer friedlichen Demonstration gegen das syrische Regime. In der Folge wurde die Bevölkerung von Yarmouk ab Dezember 2012 belagert. 

“Die Tage der Hungerblockade werde ich nie vergessen. Wir waren von der Welt verlassen. Wir kochten Gräser und aßen Katzen. Der Hunger fraß sich in unsere Körper, wir verschwanden förmlich. Viele starben an Durst, an fehlenden Medikamenten, an einem Winter ohne Heizung und Strom, der fast ein Jahr dauerte. Dass das Assad-Regime nicht mehr an der Macht ist, ist gut. Und dass es jetzt ein Gerichtsverfahren gibt, gibt mir Hoffnung auf Gerechtigkeit”, sagt Aeham Ahmad, Musiker und Überlebender aus Yarmouk.

Im Juli 2013 wurde Yarmouk vollständig abgeriegelt. Rund 18.000 eingeschlossene Zivilist*innen waren fortan von der Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten und humanitärer Hilfe abgeschnitten. Etwa 200 Zivilist*innen starben in Folge von Hunger und Typhus, bis das Regime das Viertel 2015 mit Fassbomben nahezu vollständig zerstörte. “Belagern, aushungern, zur Aufgabe zwingen“ wurde zu einer Kriegsstrategie, mit der das Assad-Regime brutal gegen Hunderttausende Zivilist*innen in von der Opposition kontrollierten Gebieten vorging.

Das Berliner Kammergericht verurteilte bereits im Februar 2023 einen Angehörigen einer Assad-treuen Miliz wegen Kriegsverbrechens und Mordes in Yarmouk. Er hatte eine Granate auf eine Menschenmenge abgefeuert, die an einem Checkpoint im belagerten Viertel auf Hilfspakete der UN wartete. Das vom ECCHR begleitete Verfahren markiert einen wichtigen juristischen Schritt, wurde jedoch kritisiert, da es sich auf ein einzelnes Verbrechen beschränkte und die systematische Natur der Blockade nicht ausreichend erfasste.

“Bis heute hat kein deutsches Gericht die systematische Belagerung und das Aushungern der Zivilbevölkerung in Yarmouk untersucht“, sagt Andreas Schüller, Leiter des Programmbereichs Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung beim ECCHR. “Ein neues Verfahren sollte diese Leerstelle schließen und die brutale Kriegsführung gegen ganze Stadtteile juristisch aufarbeiten. Die Erfahrungen aus Yarmouk zeigen erschreckende Parallelen zur Gegenwart: Auch heute werden in Gaza humanitäre Hilfsstrukturen gezielt zerstört, Versorgungswege abgeriegelt und Zivilist*innen durch den Entzug lebensnotwendiger Mittel gefährdet. Hunger als Waffe einzusetzen – ob in Yarmouk oder Gaza – ist ein Kriegsverbrechen.”

Über Jahre hinweg haben Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip eine zentrale Rolle bei der juristischen Aufarbeitung der Verbrechen des syrischen Regimes gespielt – oft als einziger Weg für Betroffene, Gerechtigkeit zu erfahren. Zuletzt wurde im Juni vor dem Oberlandesgericht Frankfurt der syrischer Militärarzt Alaa M. wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Mit dem Sturz des Assad-Regimes eröffnet sich nun die Perspektive, die Aufarbeitung künftig im eigenen Land voranzutreiben.

„Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip sind für unsere Menschenrechtsarbeit in Syrien eine wichtige Brücke: Noch haben wir keine Möglichkeit, Strafverfahren vor Ort selbst zu führen. Die Prozesse in Deutschland sind jedoch ein bedeutender Impuls von außen – einer, der in syrische Institutionen hineingetragen werden kann und zur Aufarbeitung der Verbrechen sowie zum Wiederaufbau der verwundeten Gesellschaft beiträgt,“ sagt Fadel Abdulghany vom Syrian Network for Human Rights. 

Das ECCHR arbeitet seit 2012 intensiv an der völkerstrafrechtlichen Aufarbeitung der Verbrechen in Syrien und unterstützt Überlebende der Verbrechen in Yarmouk, die sich an dem Verfahren als Nebenkläger*innen beteiligen wollen.

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