Die Ukrainian Legal Advisory Group (ULAG) und das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) haben gemeinsam eine Strafanzeige beim Generalbundesanwalt eingereicht. Beide Organisationen unterstützen eine Überlebende sexualisierter Gewalt, die sich der Anzeige über ihren Rechtsbeistand anschließt. Das Ziel ist, vier Angehörige der russischen Streitkräfte, darunter zwei hochrangige Kommandeure, für die Ermordung des Ehemanns der Überlebenden und für Akte schwerer sexualisierter Gewalt zur Rechenschaft zu ziehen. Die Überlebende hält die deutschen Behörden dazu an, zusätzlich zu der in der Ukraine laufenden Strafverfolgung tätig zu werden, um einer teilweisen Straflosigkeit entgegenzuwirken. Im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gibt es zahlreiche Berichte über ähnliche Verbrechen.
Die Tat ereignete sich wenige Wochen nach Beginn der ausgedehnten russischen Invasion im vergangenen Jahr, als russische Truppen das Dorf der Überlebenden in der Region Kyjiw besetzten. Nach wiederholten Einschüchterungen und Demütigungen drangen zwei Soldaten in das Wohnhaus der Familie ein, erschossen den Ehemann und vergewaltigen die Überlebende mehrfach. Der Frau und ihrem Sohn gelang es, zu fliehen. Beide leben inzwischen in Deutschland. Ihr Haus in der Ukraine wurde nach der Flucht vermutlich von russischen Streitkräften zerstört.
Appell an deutsche und ukrainische Behörden zu kooperieren
Bisher wurden weder die Täter noch ihre Vorgesetzten verhaftet. Gegen einen der Täter haben die ukrainischen Behörden jedoch ein Gerichtsverfahren in Abwesenheit eröffnet. Gleichzeitig ist eine vollumfängliche Strafverfolgung nur bedingt möglich: Hindernisse ergeben sich einerseits aus dem anhaltenden russischen Angriffskrieg mit all seinen Folgen, etwa Strom- und Internetausfällen, zum anderen aber auch aus dem ukrainischen Rechtssystem. Das ukrainische Recht stellt Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht unter Strafe und kennt zudem keine Vorgesetztenverantwortlichkeit. Diese Lücken führen dazu, dass die Verbrechen gegen die Überlebende nicht als Teil eines ausgedehnten und systematischen Angriffs gegen die ukrainische Zivilbevölkerung – und dementsprechend nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit – geahndet werden können. Die militärischen Vorgesetzten können nicht nach dem Grundsatz der Vorgesetztenverantwortlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden. Um diesen Rechtslücken und einer teilweisen Straflosigkeit entgegenzuwirken, fordert die Strafanzeige den deutschen Generalbundesanwalt auf, die ukrainischen Bemühungen zu unterstützen und personenbezogene Ermittlungen auf Grundlage des Weltrechtsprinzips einzuleiten. Nadia Volkova, Gründerin und Direktorin der ULAG, betont:
„Es ist wichtig, dass Fälle von schweren Verbrechen im Einklang mit internationalen Standards untersucht werden. Derzeit ist das ukrainische Rechtssystem nicht in der Lage, wirksame Ermittlungen und Strafverfolgungen bei mutmaßlichen Gräueltaten, einschließlich Verbrechen im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt in bewaffneten Konflikten, zu gewährleisten. Es ist dringend notwendig, das ukrainische Strafgesetzbuch und die Strafprozessordnung an das internationale Strafrecht anzupassen, damit die Opfer dieses Krieges die Gerechtigkeit erhalten, die sie brauchen und verdienen.“
Der wiederholte Einsatz sexualisierter Gewalt durch russische Truppen muss geahndet werden
Während ein Ende der Invasion nicht absehbar ist, häufen sich Berichte über die Ausübung sexualisierter Gewalt durch russische Truppen. Bis Juni 2023 hat die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft Ermittlungen in 208 Fällen von konfliktbezogener sexualisierter Gewalt (conflict-related sexual violence, CRSV) eingeleitet, die in verschiedenen Teilen der Ukraine, die unter russischer Besatzung standen oder stehen, registriert wurden. Sowohl das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte als auch die unabhängige internationale Untersuchungskommission für die Ukraine haben zahlreiche Fälle von CRSV dokumentiert. Jedes dieser Verbrechen ist Teil eines ausgedehnten und systematischen Angriffs gegen die ukrainische Zivilbevölkerung; auch Hinrichtungen, Folter, willkürliche Inhaftierungen und Deportationen zählen dazu. Diese Angriffe müssen daher nicht nur als Kriegsverbrechen, sondern auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgt werden. Dazu Andreas Schüller, Leiter des Programmbereichs Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung beim ECCHR:
„Die internationale Zusammenarbeit in der Strafverfolgung von Völkerstraftaten in der Ukraine ist sehr wichtig. Dadurch kann das Völkerstrafrecht – und dabei auch die Verfolgung sexualisierter Kriegsgewalt – insgesamt gestärkt werden, um auch in anderen Konfliktsituationen Anwendung zu finden. Denn nur wenn Doppelstandards vermieden werden, kann das Völkerstrafrecht seine volle Wirkung entfalten.“
Die Strafanzeige ist Teil der Bemühungen von ULAG und ECCHR, Überlebende des russischen Angriffskrieges in der Ukraine in ihren Bestrebungen für Gerechtigkeit zu unterstützen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Erfahren Sie mehr über die Arbeit von ULAG hier und über die Arbeit des ECCHR zur Ukraine hier und hier sowie über unsere Arbeit zu sexualisierter Gewalt hier.