Stellungnahme zum Ukrainekrieg: Für eine dauerhafte Stärkung des Völkerrechts

16.03.2022

Die Invasion Russlands in das ukrainische Staatsgebiet ist völkerrechtswidrig und scharf zu kritisieren (siehe unsere Stellungnahme vom 28. Februar). Seit Kriegsbeginn eskaliert der Konflikt: So mehren sich die Hinweise auf mutmaßliche Kriegsverbrechen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung. Der Westen reagierte bisher mit Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine.

Sicherlich ist es begrüßenswert, dass viele Akteure in dieser Situation auf das Völkerrecht und insbesondere das Gewaltverbot der UN-Charta als normativen Rahmen für die Weltordnung Bezug nehmen und sich internationale Institutionen mit dem Krieg befassen. Es ist – nicht nur in diesem Konflikt unabdingbar – Völkerrechtsverletzungen zu dokumentieren, Betroffenen Zugang zu Recht zu gewähren und gegen die Verantwortlichen zu ermitteln.

Allerdings haben die Legitimität und Wirkungskraft des Völkerrechts und seiner Einrichtungen in den letzten Jahrzehnten stark gelitten. Zu dieser Schwächung haben die westlichen Staaten maßgeblich beigetragen. Das Völkerrecht darf nicht nur temporär und selektiv eingesetzt werden, wie derzeit vorgeschlagen: Der Krieg muss dauerhaft zu einer anderen Völkerrechtspolitik aller Staaten und einer universalen Rechtsanwendung führen. Insbesondere sind eingeschränkte Forderungen, wie etwa ausschließlich das Verbrechen der Aggression zu verfolgen, zurückzuweisen. Warum soll jetzt ein eigenes Tribunal zur Ukraine geschaffen werden, während der Angriffskrieg der USA, des Vereinigten Königreichs und ihrer Verbündeter gegen den Irak 2003 und die dort begangenen Kriegsverbrechen folgenlos blieben? Das fragen vor allem viele Stimmen aus dem Globalen Süden. Deswegen ist es angezeigt, die Definition des Verbrechens der Aggression im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichthofs zu stärken, um in Zukunft gleichermaßen alle tatbestandsmäßigen Verstöße strafrechtlich verfolgen zu können. Eine selektive Rechtsanwendung würde Doppelstandards Vorschub leisten und das Völkerrecht und seine Legitimität weiter beschädigen.

Wir erfahren in unserer Fallarbeit seit Jahren, dass die Regeln des sogenannten humanitären Völkerrechts unzureichend sind, weil sie die zivile Bevölkerung zu wenig vor Luft- und Artillerieangriffen schützen. Das gilt für die verheerenden Zerstörungen in den syrischen Städten Aleppo und Raqqa sowie im irakischen Mosul oder die Drohneneinsätze in Afghanistan, Teilen Pakistans, im Jemen, in Libyen oder Somalia. Das Völkerrecht zielt zu sehr auf die Angreifenden und deren Sichtweisen ab, was eine Feststellung der Rechtswidrigkeit von Angriffen und eine Verurteilung nach dem Völkerstrafrecht, gerade für Kommandeure, erheblich erschwert. Die Staaten sind gefordert, die Regeln für Luft- und Artillerieangriffe sowie die bestehende Einsatzpraxis zu überprüfen. Es müssen menschenrechtsbasierte Regeln geschaffen werden, die mehr Schutz für die Zivilbevölkerung bieten und bei Angriffen Sanktionen gegen die Täter*innen auslösen.

Trotz dieser Kritik gilt: Völkerstraftaten gehören untersucht und geahndet. Vor wenigen Tagen haben der Internationale Strafgerichtshof sowie mehrere Staatsanwaltschaften in Europa, darunter auch der Generalbundesanwalt in Deutschland, Ermittlungsverfahren wegen der Situation in der Ukraine eröffnet. Die nationalen und internationalen Strafverfolgungsbehörden müssen nunmehr koordiniert zusammenarbeiten. Alle Staaten, die Zugang zu Beweismitteln wie etwa Zeug*innenaussagen und Dokumente über die Befehlsketten haben, müssen diese sichern und untereinander zugänglich machen. Überlebende aus der Ukraine sollten Rechtsbeistand erhalten, um ihre Rechte in zukünftigen Verfahren durchsetzen zu können – hier braucht es eine opfersensible Herangehensweise und entsprechende Trainings. Es muss abgestimmt werden, welche Behörden welche Fallkomplexe untersuchen und die Ermittlungen sollten von vornherein sexualisierte und geschlechtsspezifische Straftaten in den Blick nehmen. Das Ziel all dieser Maßnahmen sind Haftbefehle vor allem gegen höherrangige Täter*innen.

Nicht nur heute sondern auch in Zukunft sollten die nationalen und internationalen Strafverfolgungsbehörden die gleiche Praxis und denselben Ermittlungseifer in allen Situationen anwenden, in denen Völkerstraftaten begangen werden – unabhängig davon, wer die Täter*innen sind.

Die Durchsetzung von Völkerrecht und Menschenrechten ist den Waffenlieferungen, der Aufrüstung und den Sanktionen vorzuziehen. Diese können zwar völkerrechtlich vertretbar sein, um gegen einen Bruch des Gewaltverbots der UN-Charta zu reagieren. Zugleich sollte aber bedacht werden, dass diese Maßnahmen Kriege und darin begangene Menschenrechtsverletzungen anheizen und verlängern. Dies gilt immer, auch für Waffenlieferungen in andere Konfliktregionen.

Aktuell berät sich das ECCHR mit internationalen und ukrainischen Akteuren rechtlich-strategisch, unter anderem im Rahmen unseres Projektes Investigative Commons mit Forensic Architecture. Dabei planen wir die Methodologie, die Abstimmung mit anderen Organisationen und – zuvorderst – mit den Betroffenen. Eine dauerhafte Stärkung des Völkerrechts und seiner Einrichtungen, frei von Doppelstandards und Selektivität, bleibt Kernprinzip unserer Arbeit. Dazu werden wir auch neue, zivilgesellschaftliche, transnationale Kooperationen und Initiativen beschließen, um der Sprache der Gewalt das Recht und die gegenseitige Solidarität entgegenzusetzen.

Lesen Sie hier unser Webdossier, in welchem wir auf nationaler und internationaler Ebene Möglichkeiten ausloten und unsere Ansätze zur Stärkung des internationalen Strafrechts vorstellen.

Wer wir sind

Dem Unrecht das Recht entgegensetzen – das ist das erklärte Ziel und die tägliche Arbeit des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR).

Das ECCHR ist eine gemeinnützige und unabhängige Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Berlin. Sie wurde 2007 von Wolfgang Kaleck und weiteren internationalen Jurist*innen gegründet, um die Rechte, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie anderen Menschenrechtsdeklarationen und nationalen Verfassungen garantiert werden, mit juristischen Mitteln durchzusetzen.

Gemeinsam mit Betroffenen und Partner*innen weltweit nutzen wir juristische Mittel, damit die Verantwortlichen für Folter, Kriegsverbrechen, sexualisierte Gewalt, wirtschaftliche Ausbeutung und abgeschottete Grenzen nicht ungestraft davonkommen.

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