Auf der Suche nach neuen Ideen für die kreative und gesellschaftliche Durchsetzung der Menschenrechte gründeten wir 2020 das Investigative Commons. Die multidisziplinäre Kooperation ist das Ergebnis der jahrelangen Zusammenarbeit des ECCHR und der Forschungseinrichtung Forensic Architecture.
Das Investigative Commons eröffnet einen interdisziplinären Raum, in dem das ECCHR, Forensic Architecture, seine Schwesterorganisation Forensis, und weitere Organisationen zusammenkommen und in unterschiedlichen Konstellationen an konkreten Fallfragen arbeiten: Je nach Projekt teilen Journalist*innen, Aktivist*innen, Jurist*innen, Architekt*innen oder andere Expert*innen ihr Wissen. Die Ergebnisse – Videoanalysen, Auswertung von Satellitenbildern, multimediale Ausstellungen – zeigen neue Wege zur Wahrheitsfindung für Menschenrechte und Umweltschutz. Sie sollen sowohl in gerichtlichen Verfahren als auch anderen öffentlichen Foren wie Museen genutzt werden.
Die Werkzeuge, die dem Team des Investigative Commons zur Verfügung stehen und fallspezifisch ausgewählt werden, sind vielfältig: verschiedene Recherchemethoden des Investigativ- und Datenjournalismus, machine learning, virtual und augmented reality, Animationstechniken oder innovative Ideen aus der Architektur. Mit diesen und weiteren Mitteln wollen wir neue Möglichkeiten in der Beweisführung rechtlicher Fallarbeit ausloten. Zum Auftakt der Investigative Commons erkunden wir diverse Themen wie die Verantwortung wirtschaftlicher Akteure aus Europa für Kriegsverbrechen im Jemen, den deutschen Völkermord in Namibia und Push-Backs an der griechisch-türkischen Grenze.
Das ECCHR und Forensic Architecture kooperierten in den letzten zehn Jahren zu Menschenrechtsverbrechen weltweit: Arbeitsbedingungen in Pakistan, Folter in Syrien, spanische Push-Backs in Melilla. 2020 kam die Kooperation an einen Wendepunkt und wir entschieden uns, ein gemeinsames Büro in Berlin zu beziehen, die Zusammenarbeit zu verstetigen und in gemeinsamen Projekten neue Wege der Beweisführung zu ergründen.
Hier finden Sie die Projekte des Investigative Commons
Trotz tausender Angriffe auf Wohnhäuser, Märkte, Krankenhäuser und Schulen – geplant und durchgeführt von der Militärkoalition um Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate – liefern transnationale Unternehmen aus Europa Waffen, Munition und logistische Unterstützung in den Jemen-Krieg.
Um zu zeigen, welche Auswirkungen die europäischen Waffenexporte im Jemen haben, erstellten das ECCHR, Forensic Architecture, Bellingcat und Yemeni Archive die interaktive Zeitkarte European arms in the bombing of Yemen. Sie dokumentiert Angriffe auf zivile Ziele, in denen nachweisbar Waffen etwa von Rheinmetall oder Airbus eingesetzt wurden. Das Projekt basiert auf Untersuchungen an den Angriffsorten, Open-Source-Ermittlungen und rechtlichen Analysen. Die Informationen aus unseren gemeinsamen Recherchen arbeiteten wir kartografisch auf und setzten sie miteinander in Verbindung. Das Ergebnis: Ein interaktiver Überblick über die Verbrechen, die immer noch im Jemen begangen werden – jedes einzelne davon möglicherweise eine Völkerrechtsverletzung.
Die Zeitkarte soll als Plattform für nationale und internationale Justizbehörden dienen, die zum Jemen-Krieg ermitteln – und kann Informationsgrundlage für Zivilgesellschaft, Wissenschaftler*innen oder Jurist*innen werden. Das Projekt ergänzt unsere Strafanzeige vom November 2019 beim Internationalen Strafgerichtshof gegen wirtschaftliche und staatliche Akteure, die in die Waffenexporte involviert sind und somit mutmaßlich Beihilfe zu den Kriegsverbrechen im Jemen leisten.
„Kontrafaktische“ Angriffe auf staatliche Institutionen und die Justiz durch neofaschistische Gruppen sind ein wesentliches Merkmal der heutigen Zeit. Reaktionen darauf sind oft ein Festhalten an diesen traditionellen Säulen der Macht und des Wissens. Was aber kann die Zivilgesellschaft tun, wenn eben diese Institutionen für Verbrechen, Staatsterrorismus und Vertuschungen verantwortlich sind und an zwei Fronten gleichzeitig gekämpft wird: für unabhängige Beweise und gegen institutionelles Wissen?
Das Investigative Commons begegnet dieser Krise, indem es die Entwicklung und den Einsatz „counter-forensischer“ Beweise für die Allgemeinheit nutzbar macht. Initiiert von Forensic Architecture, FORENSIS und ECCHR zielt diese interdisziplinäre Kooperation darauf ab, staatliche und unternehmerische Gewalt aufzudecken. Dabei trifft das situierte Wissen von Gruppen an der Front politischer Kämpfe auf Methoden von Investigativreporter*innen, Whistleblower*innen, Aktivist*innen, Rechtsanwält*innen, Wissenschaftler*innen, Künstler*innen, Architekt*innen und Kulturschaffenden. Sie alle arbeiten an Fällen von gesellschaftlicher Dringlichkeit: Grenzsysteme, Cyberüberwachung, Umweltzerstörung und Kontinuitäten kolonialer Gewalt. Das Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin begleitet Investigative Commons 2021-22 mit Ausstellungen und Konferenzen.
Schwer misshandelt, irregulär inhaftiert und mehrfach gewaltsam aus Griechenland in die Türkei zurückgeschoben – die detaillierten Schilderungen von Parvin A. sowie vielfältiges weiteres Beweismaterial legen die verdeckte und systematische Push-Back-Praxis Griechenlands offen. Mit Unterstützung des ECCHR, Forensic Architecture und der griechischen NGO HumanRights360 reichte Parvin A. hierzu beim UN-Menschenrechtsausschuss eine Beschwerde gegen Griechenland ein. Zentral ist hierbei die Analyse der Beweismittel, die auch in Kooperation mit dem Investigative Commons entstand.
Die deutschen Kolonialtruppen begangen zwischen 1904 und 1908 im heutigen Namibia den ersten Völkermord des zwanzigsten Jahrhunderts. Während der deutschen Kolonialherrschaft wurden die Menschen in Namibia rassistisch unterdrückt, entrechtet und enteignet. Adäquate Reparationen der Deutschen Regierung bleiben bis heute aus.
Im Rahmen des Investigative Commons haben wir gemeinsam Forensic Architecture und Forensis sowie Partner*innen in Namibia Untersuchungen durchgeführt. Ihre Methodik bei der Analyse zentraler Orte deutscher Verbrechen beinhaltet kollaborative Modellierung, situierte Zeugenaussagen und Geolokalisierung.
Das Material, das durch diese Zusammenarbeit entsteht, kann von der Namibianischen Zivilgesellschaft in ihrem Kampf um Anerkennung des Völkermordes und Wiedergutmachung verwendet werden.