Nach 8 Jahren: Staatsanwaltschaft fordert Einstellung des Verfahrens im IUVENTA-Fall

28.02.2024

Trapani, 28.02.2024 - In einer überraschenden Wendung hat die Staatsanwaltschaft im Fall gegen die vier Iuventa Crewmitglieder und weitere Personen für die Einstellung des Verfahrens plädiert. Mit der heutigen Anhörung begannen die Schlussplädoyers, in denen die Staatsanwaltschaft, nach sieben Jahren seit Beginn der Ermittlungen, unerwartet einräumte, dass es keine Grundlage für die Anklagen gebe. Die Entscheidung des Richters steht noch aus.

Die erste der vier abschließenden Anhörungen im Vorverfahren gegen die vier Besatzungsmitglieder der Iuventa-Crew und andere begann heute mit dem Schlussplädoyer der Staatsanwaltschaft. Zur Überraschung der Angeklagten forderte die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens und die Freigabe des Schiffes Iuventa. Das Innenministerium, das dem Verfahren als Nebenkläger beigetreten ist, erklärte, dass es die Entscheidung dem Gericht überlasse.

In ihrem Plädoyer räumte die Staatsanwaltschaft ein, dass die Hauptzeug*innen nicht glaubwürdig seien und dass es keine Grundlage für ein Fehlverhalten der Angeklagten gebe. Die Staatsanwaltschaft merkte an, dass die Vorverhandlungen mehr Beweise und Informationen geliefert hätten, die sie vorher nicht hatten, was sie zu einer Änderung ihres Standpunkts veranlasst habe.

Die Angeklagten sind zwar erleichtert über diesen Kurswechsel, äußerten sich jedoch schockiert über das, was sie als Inkompetenz oder böse Absichten der Staatsanwaltschaft empfinden, und was in der heutigen Anhörung deutlich wurde. Entscheidenden Hinweisen, wie Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Belastungszeug*innen, hätten während der Ermittlungsphase und nicht während der Vorverhandlungen nachgegangen werden müssen. Die Verteidigung betonte, wie wichtig es sei, vor der Anklageerhebung gründlich zu ermitteln.

Francesca Cancellaro, eine der Anwält*innen der Iuventa-crew, kritisierte das Vorgehen der Staatsanwaltschaft: "Wir sind erfreut über den Sinneswandel der Staatsanwaltschaft nach 7 Jahren. Aber so funktioniert ein Rechtsstaat nicht. Eine Anklage sollte erst nach einer gründlichen Untersuchung und der Sammlung aller verfügbaren Beweise erhoben werden. Ein Verfahren ohne angemessene Vorarbeit zu beginnen, ist nicht rechtens und belastet die Angeklagten unangemessen."

Die Verteidigung wies darauf hin, dass sie im Jahr 2019 sogar einen Antrag auf Einstellung der Ermittlungen gestellt und alle Beweise und Unterlagen eingereicht hatte, auf die sich die Staatsanwaltschaft nun, Jahre später, stützt. Es scheint jedoch, dass die Staatsanwaltschaft sich dieses Material nicht einmal angesehen, sondern sich stattdessen dafür entschieden hat, auch ohne ausreichende Grundlage ein Verfahren zu eröffnen.

Nicola Canestrini, eine der Anwält*innen der Iuventa-crew: "Heute hat die Regierung, die eigentlich von den Seenotretter*innen Schadensersatz gefordert hatte, die Entscheidung dem Gericht überlassen und anschließend den Gerichtssaal verlassen."

Dariush Beigui, Angeklagter der Iuventa-crew: "Es ist erleichternd und traurig zugleich. Hätte die Staatsanwaltschaft von Anfang an auf die Beweise geachtet, hätten sie die Iuventa nie beschlagnahmen dürfen und uns wären 7 Jahre Stress erspart geblieben. Ein Auge weint, das andere lacht."

Sascha Girke, Angeklagter der Iuventa-crew: "Die Iuventa hätte nie beschlagnahmt werden dürfen und man hätte nie zulassen dürfen, so Menschen dem Tod zu überlassen. Jetzt hat das Gericht in Trapani die Chance, die tödlichen Auswirkungen dieser Kriminalisierung von Solidarität zu stoppen - eine Situation, die niemals hätte entstehen dürfen. Wir rufen das Gericht auf, dies zu tun."

Kathrin Schmidt, Angeklagte der Iuventa-crew: "Der heutige Tag war ein wichtiger Schritt zur Entkriminalisierung der Seenotrettung. Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass im Gegensatz zum Iuventa-Prozess der Kampf um die Bewegungsfreiheit nicht im Entferntesten zu einem Ende kommt. Menschen, die auf der Flucht sind, sind weiterhin mit einem tödlichen Grenzregime und gewaltsamer Unterdrückung konfrontiert. Niemand ist frei, solange nicht alle frei sind!"

Allison West, ECCHR: "Selbst wenn die Anklage fallen gelassen wird, hat das lange Gerichtsverfahren gegen die Iuventa-Besatzung vielseitige negative Auswirkungen gehabt: Durch die Kriminalisierung der Iuventa-Besatzung wurde nicht nur ein weiteres dringend benötigtes Rettungsschiff still gelegt, sondern auch die Seenotrettung und die Solidarität mit Menschen auf der Flucht massiv behindert. Das Gesetz sollte diese lebenswichtige Arbeit schützen und unterstützen und nicht dazu benutzt werden, sie einzuschränken."

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