Am 18. Juni prüft der Europäische Gerichtshof (EuGH), ob der EU-Rechtsrahmen zur Kriminalisierung der Beihilfe zur unerlaubten Einwanderung mit der EU Grundrechtecharta vereinbar ist. Das Urteil könnte weitreichende Folgen für sowohl die EU- als auch nationale Gesetzgebung und hunderte laufende „Schmuggel“-Fälle haben.
Obwohl angeblich dafür da, kriminelle Netzwerke zu bekämpfen und die Sicherheit von Menschen auf der Flucht zu gewährleisten, hat das EU 'Schleuser-Paket' (Facilitators Package) seit 2002 stattdessen zur Strafverfolgung von Tausenden von Menschen auf der Flucht geführt, sowie von Personen, die humanitäre Hilfe leisten oder Such- und Rettungsaktionen durchführen.
Die Prüfung durch den EuGH wurde in Bezug auf den „Kinsa-Fall“ (früher Kinshasa, C-460/23) von einem Gericht in Bologna, Italien, beantragt. In dem Fall geht es um O.B., eine kongolesische Frau, die im August 2019 mit gefälschten Pässen am Flughafen Bologna ankam. Sie reiste zusammen mit ihrer 8-jährigen Tochter und 13-jährigen Nichte nach Italien, um dort Asyl zu beantragen. Bei ihrer Ankunft wurde O.B. von den beiden Minderjährigen getrennt und der Beihilfe zur unerlaubten Einreise beschuldigt. Ihr droht eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren.
„Der Kinsa-Fall bietet die einzigartige Gelegenheit, das sogenannte Verbrechen der Solidarität anzufechten, das in den letzten 20 Jahren so viele Menschen auf der Flucht und Aktivist*innen ins Visier genommen hat“, sagt Francesca Cancellaro, Anwältin von O.B. „Diese Überkriminalisierung schädigt ernsthaft grundlegende Menschenrechte und muss rückgängig gemacht werden.“
Die Verteidigung von O.B. beantragte eine Vorabentscheidung des EuGH, um die Vereinbarkeit des EU-Schleuser-Pakets – sowie die nationale italienische Umsetzung, Artikel 12 des italienischen Einwanderungsgesetzes – mit der EU-Grundrechtecharta zu überprüfen (insbesondere das Recht auf persönliche Freiheit und Eigentum, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Asyl und die Achtung des Familienlebens).
Der EuGH wird nun prüfen, ob diese Gesetze die Beihilfe zur unerlaubten Einreise unverhältnismäßig kriminalisieren, indem sie unabhängig vom Motiv schwere Strafen vorschreiben, ohne verpflichtende Ausnahmen für Handlungen, die aus altruistischen oder humanitären Gründen erfolgen.
Das Ergebnis könnte weitreichende Auswirkungen auf die EU- und nationale Rechtsrahmen sowie auf individuelle Gerichtsverfahren haben. Sollten alle oder Teile der Gesetze für ungültig erklärt werden, müsste die EU-Kommission entsprechende Maßnahmen zur Anpassung der Gesetze ergreifen, um die Einhaltung der Grundrechte zu gewährleisten. Ein solches Urteil könnte angesichts der laufenden Reform des EU-Schleuser-Pakets die Verhandlungen erheblich beeinflussen.
„Gesetze, die die Beihilfe zur unerlaubten Einreise kriminalisieren, setzen Menschen auf der Flucht noch größerer Gefahr aus“, sagt Allison West, Senior Legal Advisor beim ECCHR. „Der Kinsa-Fall ist ein Beispiel für den Trend, dass Staaten das Recht nutzen, um migrationsfeindliche Agenden durchzusetzen. Der EuGH muss eine Neuausrichtung des EU-Rahmens hin auf den Schutz von Rechten erzwingen.“
Entsprechende nationale Gesetze könnten ebenfalls als rechtswidrig gelten und müssten neu bewertet werden. Personen, die wegen Beihilfe angeklagt sind, können die Aussetzung ihrer Verfahren beantragen, bis der EuGH eine Entscheidung trifft. Personen, die bereits nach den angefochtenen Gesetzen verurteilt wurden, könnten ihre Fälle anschließend erneut prüfen lassen.
Die Entscheidung des EuGH wird für September 2024 erwartet.
Sascha Girke von der iuventa-crew, die kürzlich in Italien von der Anklage freigesprochen wurde, Beihilfe zur unerlaubten Einreise während Rettungsaktionen auf See geleistet zu haben, erklärt: “Die Argumentation des Gerichts in unserem Fall macht deutlich: Ohne legale Einreisewege ist die Beihilfe eine entscheidende Maßnahme zur Wahrung und zum Schutz grundlegender Rechte.”
Julia Winkler von borderline-europe kommentiert: "Wir haben zahllose Fälle dokumentiert, bei denen Menschen auf der Flucht teilweise lebenslange Haftstrafen erhielten, nur weil sie ein Boot gesteuert haben. Diese Gesetze bekämpfen keine Verbrechen, sie sind ein Verbrechen."
Weitere Informationen, FAQ, rechtliche Kritiken und Stimmen betroffener Personen, Aktivist*innen und Organisationen finden Sie auf der Kinsa-Fall-Website.
Read more on the Kinsa case webpage.
Die Rechtsvertretung von O.B. wird in dem Verfahren zusätzlich von PRO ASYL unterstützt.
Für weitere Anfragen oder Interviewanfragen kontaktieren Sie bitte: kinsa-case@solidarity-at-sea.org