Mehr Show als Sicherheit: Zertifikate in der Textilindustrie

Beschwerden wegen Prüfbericht von TÜV Rheinland zu Rana-Plaza-Fabrik

Bangladesch – Textilindustrie – Rana Plaza

Kontrollen und Zertifikate zu Sicherheits- und Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie dienen dem Image der Unternehmen, doch den Arbeiter*innen in den globalen Produktions- und Lieferketten nutzen sie kaum. Das zeigt exemplarisch der Einsturz des Fabrikkomplexes Rana Plaza in Dhaka (Bangladesch), bei dem im April 2013 mehr als 1.130 Menschen starben und mehr als 2.500 zum Teil schwer verletzt wurden.

Bis heute hat keines der beteiligten Unternehmen rechtliche Verantwortung für den Einsturz und die Toten und Verletzten übernommen. Vielmehr verweisen Hersteller, Auftraggeber und Händler auf Zertifikate zu den Sicherheits- und Arbeitsstandards, um jede rechtliche Verantwortung zu vermeiden.

Fall

Wenige Monate vor dem Einsturz des Fabrikkomplexes prüfte der deutsche Prüfdienstleister TÜV Rheinland die Produktionsstätte des Textilherstellers Phantom Apparel Ltd. im Rahmen eines sogenannten Social Audits. Das ECCHR wirft TÜV Rheinland vor, professionelle Prüfstandards außer Acht gelassen zu haben. So zeige der Bericht massive Menschenrechtsverletzungen wie Kinderarbeit, Diskriminierung von Frauen und das Fehlen von Gewerkschaften nicht auf. Auch wenn der TÜV nicht den Auftrag hatte, die Statik der Fabrik zu prüfen, so stellt sich doch die Frage, wieso in dem Bericht die Bauqualität des Gebäudes sogar als gut bezeichnet wurde.

Beauftragt war TÜV Rheinland von einem Mitglied der Business Social Compliance Initiative (BSCI). Die Unternehmensplattform beruft sich auf die Standards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und soll dazu dienen, Sicherheits- und Arbeitsbedingungen in den Produktionsländern zu überwachen und zu verbessern.

Im Juli 2015 reichten das ECCHR und seine Partner eine gemeinsame Beschwerde bei der BSCI ein und forderten die Offenlegung des Auditvertrags für TÜV Rheinland sowie dessen Berichts zu Rana Plaza. Bei einem Treffen mit dem ECCHR räumten Vertreter der BSCI ein, dass die Fragen der Haftung und der Sanktionen für Zertifizierungsunternehmen geklärt werden müssten.

Kontext

Im Mai 2016 legte das ECCHR zusammen mit Betroffenen des Rana-Plaza-Einsturzes, den Organisationen FEMNET und medico international sowie den Gewerkschaften Garment Workers Unity Forum und Comrade Rubel Memorial Center aus Bangladesch eine sogenannte OECD-Beschwerde  gegen TÜV Rheinland ein. Eingereicht wurde diese bei der Nationalen Kontaktstelle (NKS) der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) beim Bundeswirtschaftsministerium in Berlin.

Die Abschlusserklärung der NKS vom Juni 2018 könnte den Weg für die notwendigen Reformen im Social-Audit-System ebnen. Die NKS empfiehlt einen Dialog zwischen Prüfdienstleistern wie dem TÜV Rheinland, Unternehmensverbänden, Herstellern, Händlern und Gewerkschaften. Dieser Dialog soll sich vor allem auf Themen wie Transparenz von Prüfberichten und die Unabhängigkeit der Kontrollen konzentrieren. Das ECCHR und seine Partner*innen sind enttäuscht, dass es im Rana-Plaza-Fall zu keiner Einigung mit TÜV Rheinland gekommen ist, begrüßten aber die Erklärung der NKS, mit der das Verfahren endete.

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Zitate

Grundlagen

Dieses Q&A informiert über die rechtlichen Grundlagen der Business Social Compliance Initiative (BSCI) und zum Hintergrund des Social Audit von TÜV Rheinland.

Die Business Social Compliance Initiative (BSCI) ist eine übergreifende europäische Plattform der Foreign Trade Association (FTA), einem Wirtschaftsverband des europäischen und internationalen Handels und hat ihren Sitz in Brüssel. Die Unternehmen, die Mitglied der BSCI sind, haben sich zu einem Verhaltenskodex verpflichtet, der dazu dienen soll, die Sicherheits- und Arbeitsbedingungen in Produktionsländern weltweit systematisch zu überwachen und zu verbessern. Die Initiative beruft sich auf die Standards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und weiteren wichtigen internationalen Bestimmungen wie der UN-Menschenrechtscharta, sowie auf nationale Rechtsvorschriften.
 
Der BSCI gehören derzeit mehr als 800 Hersteller, Importeure, Einzelhändler, etc. an – darunter auch die meisten großen international agierenden Textilunternehmen, wie Metro, Migros, Otto, Coop oder Kesko.

Die "Zertifizierung" der BSCI erhalten Unternehmen, die auf dem internationalen Markt tätig und erfolgreich nach den Standards der Initiative eingestuft worden sind. Die Zertifizierung dient einem Unternehmen als Nachweis, dass es sich bei seinen Produzenten und Zulieferern für faire Arbeitsbedingungen und Arbeitsschutz in seinen Lieferländern einsetzt.
 
Der BSCI selbst legt Wert darauf, dass es sich dabei nicht um ein "Siegel" handelt, sondern zum Ausdruck bringt, dass das zertifizierte Unternehmen den BSCI-Standards entspricht. Welche rechtliche Qualität der Zertifizierung sich hieraus ergeben soll, bleibt offen. Eine "Zertifizierung" nach BSCI-Standard setzt im Einzelnen voraus:

  • Einhaltung der national gültigen Gesetze
  • Versammlungsfreiheit und das Recht auf Kollektivverhandlungen
  • Verbot jeglicher Diskriminierung
  • Einhaltung der gesetzlichen Mindestlöhne und Sicherung des Lebensunterhalts
  • Festlegung der Höchstarbeitszeit auf 48 Stunden pro Woche und Begrenzung der Überstunden
  • Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz
  • Verbot von Kinderarbeit
  • Verbot von Zwangsarbeit und Disziplinarmaßnahmen
  • Einhaltung der Mindestanforderungen für die Abfallbewirtschaftung, für Emissionen und für die Abwasserbehandlung
  • Einhaltung der Mindestanforderungen für den Umgang mit Chemikalien und anderen gefährlichen Stoffen

Nach dem Einsturz von Rana Plaza verwiesen viele Firmen, die dort Textilien produzierten oder produzieren ließen, auf Zertifikate zu Sicherheits- und Arbeitsstandards. Damit lehnten die Hersteller, Labels, Importeure und Händler bisher jegliche rechtliche Verantwortung für die Katastrophe ab.
 
Für die Betroffenen ist es sehr schwer, die Einhaltung sozialer Standards gerichtlich durchzusetzen. Dritte – in diesem Fall das ECCHR und seine Partnerorganisationen – können aber bei der BSCI über ein internes Verfahren Beschwerden über BSCI-Zertifizierer einreichen. Dabei kann geltend gemacht werden, dass das Zertifizierungsunternehmen gegen Sorgfaltspflichten verstoßen hat und dass die Zertifizierung zu Unrecht erteilt wurde.
 
Die Beschwerde richtete sich daher zum einen gegen TÜV Rheinland, da seine  Kontrolle gegen BSCI-Vorgaben verstoßen hat. Gleichzeitig richtete sich die Beschwerde aber auch gegen die BSCI selbst, da diese ihrer Verantwortung die Qualität der Zertifizierung zu sichern, nicht gerecht geworden ist.

Am Anfang des "Zertifzierungsprozesses" der BSCI steht ein Selbstbewertungsfragebogen, den das Unternehmen ausfüllt und der den Prüfer_innen einen ersten Eindruck vermitteln soll. Darauf folgt in der Regel eine Prüfung des Zulieferers in dessen Produktionsstätte. Dabei soll festgestellt werden, ob sich die Firma an die Richtlinien des BSCI-Verhaltenskodex hält beziehungsweise ob es Mängel bei den Anforderungen des Sozialmanagementstandards SA 8000 gibt. In der Produktionsstätte beginnt das Audit (Prüfung) mit einer Eingangsbesprechung, anschließend inspizieren die Prüfer_innen das Werk, befragen Führungskräfte und andere Mitarbeiter_innen und kontrollieren die Unterlagen.
 
Am Ende des Lieferantenaudits findet eine Abschlussbesprechung statt. Abschließend werden die Prüfergebnisse inklusive der Bilder des Werks in einem schriftlichen Bericht festgehalten und der BSCI übermittelt. Die Prüfresultate werden dann in die BSCI-Datenbank eingegeben, damit auch andere BSCI-Mitglieder sehen können, dass das Unternehmen erfolgreich nach BSCI zertifiziert worden ist.

Wird während des BSCI-Audits festgestellt, dass Bedingungen bzw. Standards nicht erfüllt sind, sind die Firmen gehalten, die geforderten Korrekturen schnellstmöglich umzusetzen. Ob die entsprechenden Maßnahmen umgesetzt werden und wirksam sind, muss erneut vor Ort geprüft werden. Die Ergebnisse einer Nachprüfung werden in der BSCI-Datenbank dokumentiert.

Die Eintragung der Daten aus dem Prüfbericht in das BSCI-System bleibt zunächst drei Jahre lang gültig, mit einem erneuten Audit kann sie um weitere drei Jahre verlängert werden.

TÜV Rheinland ist ein international tätiger Prüfdienstleister, der Produkte, Anlagen und Abläufe von Prozessen, auf die Einhaltung von freiwilligen und gesetzlichen Standards hin zertifiziert. TÜV Rheinland ist eines der Zertifizierungsunternehmen, das Audits für die BSCI durchführt und bezeichnet seine Leistungen sowie die Prüfungsberichte als "Ausweis für den Weltmarkt".
 
Um zur Vergabe eines Zertifikats befugt zu sein, muss sich ein Zertifizierer in der Regel von dem Unternehmen oder der Plattform, das die jeweiligen Standards für die Prüfung von Sicherheits- und Arbeitsbedingungen vorgibt, selbst zertifizieren und akkreditieren lassen.
 
Den Auftrag für ein Audit (Prüfung) erhalten TÜV Rheinland und andere Zertifizierer von der Firma, die zertifiziert werden soll, selbst oder von deren Kunden. Diese vertragliche Nähe birgt in sich das Risiko eines Interessenskonflikts sowie einer Gefährdung der Qualität der Zertifizierung. Denn: Der Zertifizierer wird von dem zu Zertifizierenden nicht nur beauftragt, sondern auch bezahlt.

TÜV Rheinland war von einem BSCI-Mitglied mit der Prüfung der Produktionsstätte von Phantom Apparel Ltd. im Rana-Plaza-Fabrikkomplex beauftragt. Das ECCHR und seine Partnerorganisation werfen TÜV Rheinland vor, bei Überprüfung der Sicherheits- und Arbeitsstandards nicht die erforderliche Sorgfalt angewendet zu haben und erhebliche Mängel nicht ausreichend dokumentiert bzw. geprüft zu haben:

  • offensichtliche Mängel in der Baukonstruktion und der Gebäudesicherheit sowie das Fehlen einer nach bangladesischem Recht gültigen Baugenehmigung nicht beanstandet zu haben
  • das Fehlen einer ordnungsgemäßen Dokumentation von Sicherheitsmaßnahmen zur Gebäudesicherheit nicht erkannt bzw. nicht beanstandet zu haben
  • das Fehlen einer hinreichenden Aufklärung der Arbeiter_innen über effektive Beschwerdemechanismen oder ihre Rechte, wie beispielsweise das Recht, ein offensichtlich baufälliges Gebäude nicht betreten zu müssen, nicht erkannt bzw. nicht behoben zu haben
  • Kinderarbeit in den Fabriken nicht erkannt bzw. nicht ausreichend geprüft zu haben
  • Maßnahmen ordnungsgemäßen Dokumentation der Arbeitszeiten zur Berechnung der Sozialleistungen der Arbeiter_innen nicht ausreichend eingefordert zu haben

Das ECCHR und seine Partnerorganisationen werfen TÜV Rheinland insbesondere folgende Aspekte vor:
 

  • die landespezifischen und regional abhängigen Umstände, die sich auf die Arbeitsbedingungen auswirken, nicht berücksichtigt zu haben
  • die für eine professionelle Durchführung erforderliche kritische Würdigung und ständige Überprüfung der Ergebnisse vernachlässigt zu haben
  • eine über eine allgemeingültige Checkliste hinausgehende erforderliche sorgfältige und umfassende Prüfung nicht ausreichend durchgeführt zu haben
  • das Audit nicht mit einem angemessen zusammengestellten und geschulten Team durchgeführt zu haben
  • die Abhängigkeit der Arbeiter_innen von ihren Arbeitgeber_innen nicht hinreichend berücksichtigt zu haben

Beschwerdeführer waren das ECCHR, FEMNET und die Kampagne für Saubere Kleidung, medico international und das Activist Anthropologist Collective aus Bangladesch, die vor Ort mit den Überlebenden und Hinterbliebenen der Rana-Plaza-Katastrophe zusammenarbeiten.

Die Beschwerdeführer forderten vom BSCI seiner Verantwortung, die Qualität der Zertifizierung zu sichern, gerecht zu werden. Dazu gehört, dass die BSCI den Geschädigten eine Beschwerdemöglichkeit einräumt und TÜV Rheinland als zertifizierendes Unternehmen für Pflichtverstöße sanktioniert.

Sie forderten darüber hinaus:

  • durch die Vergabe der BSCI-Zertifizierung Dritten, insbesondere Arbeiter_innen sowie ihren Angehörigen, zu ermöglichen, ihre Rechte gegen das Zertifizierungsunternehmen geltend zu machen
  • die vom TÜV Süd und vom TÜV Rheinland erstellten Prüfberichte (Audit Reports) über Fabriken in Rana Plaza zugänglich zu machen
  • bei Verstößen gegen von der BSCI definierten Standards den Rahmenvertrag dem Zertifizierungsunternehmen zu kündigen
  • eine grundlegende Reform der BSCI-Zertifizierungsabläufe

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Definition

Hard law/soft law

Soft law umfasst nicht rechtlich bindende Übereinkünfte, meist auf internationaler Ebene. Hard law ist der feste rechtliche Rahmen, dem alle verpflichtet sind.

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Themen (2)

Einblick

Sozialaudits und Zertifikate

Kontrollen, Zertifikate, Sicherheitsüberprüfungen: Was hilfreich klingt, ist oft bloß Augenwischerei. Die sogenannten Audits zu Sicherheits- und Arbeitsbedingungen nutzen den Arbeiter*innen in den globalen Produktions- und Lieferketten oder den Anwohner*innen in (agro-)industriellen Gebieten meist wenig. Anstatt staatlicher Kontrollen, für die häufig das Geld oder der politische Wille fehlt, übernehmen private Firmen die Überwachung von Arbeits-, Gesundheits- oder Umweltstandards.

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