Insight
Libyen und Mittelmeer
Aufgrund seiner geographischen Lage ist Libyen sowohl Ziel- wie Transitland für Menschen aus dem südlichen Afrika. Doch seit 2011 wurde es für Durchreisende zunehmend zur Falle: Auf den Sturz des Gaddafi-Regimes folgte ein Bürgerkrieg, in dessen Folge unterschiedliche private und staatliche Kräfte bis heute um Ressourcen und Macht kämpfen. Dabei beuten sie Migrant*innen für ihre jeweiligen Zwecke aus und begehen so schwere Menschenrechtsverletzungen wie Zwangsarbeit, Zwangsrekrutierung, sexuelle Versklavung, Verschleppung und die Erpressung von Lösegeld bei Angehörigen. Aus dieser Konflikt-Ökonomie hat sich über die vergangen zehn Jahre das Betreiben von menschenrechtswidrigen Gefangenenlagern als eigenständige Branche entwickelt. Gleichzeitig versperren europäische Regierungen die Migrationsrouten über das Mittelmeer weiter, zogen sich aus der Seenotrettung zurück und schlossen stattdessen Abkommen mit der sogenannten libyschen Küstenwache, die systematisch rechtswidrige Pushbacks vornimmt.
Gemeinsam mit Betroffenen und Partnern hat das ECCHR 2021 und 2022 Strafanzeigen nach Artikel 15 beim Internationalen Strafgerichtshof eingereicht. Darin geht es uns insbesondere um die Rolle Europas: Indem europäische Mitgliedsstaaten Abschottungspolitik konzipieren, organisieren und finanzieren, machen sich hochrangige europäische Amtsinhaber zu Mittätern an Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, die in Libyen und auf dem Mittelmeer begangen werden. Bis heute ist keiner der Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen worden.
Diese andauernde Straflosigkeit im Fall Libyen produziert weitreichende Nachahmeffekte: Sogenannte „Migrations-Abkommen“, die Italien, Deutschland und andere EU-Staaten mit Mauretanien, Tunesien und weiteren Mittelmeer-Anrainern schließen, ermöglichen vielerorts schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen an Geflüchteten und Migrant*innen. Die durch internationales Recht gebotene Rettung Schiffbrüchiger wird durch die systematische Kriminalisierung ziviler Seenotrettung ausgehebelt. Um diese Aushöhlung des Rechts im Namen des Grenzschutzes zu stoppen, setzen wir uns wir uns gemeinsam mit Überlebenden und Partner-Organisationen weiterhin für die vollständige Aufklärung und Ahndung der Völkerrechtsverbrechen in Libyen und der Mittelmeerregion ein.